Warum einem Wissenschaftler mit Schweinehirnen ein Meilenstein in der Cannabinoid-Forschung gelang oder wie die Forschung für mehr Akzeptanz von Cannabis sorgt – auch in der klassischen Medizin.
In den 90-er Jahren kam es bei den Metzgern von Tel Aviv zu einem massiven Engpass von Schweinehirnen. Eher verwunderlich für ein Land, in dem traditionell das Schwein keinen Platz auf den Tellern der größtenteils jüdischen Bevölkerung findet. Erstaunt ob der plötzlich drastisch steigenden Preise beim Einkauf waren nicht nur die wenigen Hausfrauen, sondern vor allem eine Gruppe von Forschungsassistenten rund um den „Vater der Erforschung der Cannabinoide“, Raphael Mechoulam.
Was in Israel am Weizmann-Institut für Wissenschaften in Jerusalem in den 60-ern seinen Anfang nahm, beschäftigt heute Tausende Forscher in der ganzen Welt: Hanf hat sich in den Focus der Wissenschaft gerückt und mehr als 100.000 Publikationen zum Thema sprechen für sich.
„Raphael Mechoulam legte mit seiner Arbeit die wesentlichen Grundlagen für die Erforschung des Hanfes, seine Inhaltsstoffe und seine Wirkung auf den menschlichen Körper“, bringt es der international anerkannte slowenische Sozialmediziner Dušan Nolimal auf den Punkt: 1963 gelang es aus den mehr als 1000 Substanzen im Hanf das Cannabinoid CBD zu isolieren. Nur ein Jahr später folgte das Cannabinoid THC und 1988 schließlich gelang ein weiterer wissenschaftlicher Meilenstein: Die ersten Rezeptoren an denen die Cannabinoide im Gehirn andocken wurden entdeckt. Schließlich wurde 1997 das Endocannabinoid-System identifiziert. Das Endocannabinoid „Anandamid“ kommt auch in geringer Menge in Schweinehirnen vor. Bonmot am Rande: Weil die israelischen Wissenschaftler möglichst viel Schweinehirn für deren Forschung benötigten, kam es damals auch zum Versorgungsengpass und zu Preiserhöhungen in Tel Aviv – allein im Dienst der Wissenschaft.
Hanf in der Medizin ist längst gelebte Realität. Egal ob in der Krebstherapie, bei Depressionen, Stress oder anderen organischen Erkrankungen. Hanf- und Hanfextrakte finden mehr und mehr Eingang auch in die klassische Schulmedizin. „Cannabinoide sind kein Wundermittel, können aber bei richtiger Anwendung durchaus hilfreich bei der Behandlung sein“, stellt auch der Arzt Johann Zoidl, Vorstand der Palliativstation am Ordensklinikum „Barmherzige Schwestern“ in Linz fest. Nach heutigem Stand der Forschung können wir zweifelsfrei feststellen, dass Phyto-Cannabinoid-Moleküle sicher sind, sicherer als die meisten in den EU-Arzneibüchern beschriebenen Medikamente. Darüber hinaus haben die Phyto-Cannabinoid-Moleküle bei vielen Krankheiten eine Wirksamkeit.
Wirft man einen Blick auf die vergangenen fünf Jahre, so lässt sich heute ein regelrechter Hype zum Thema Cannabinoide feststellen. Selten wurde über ein Thema so polarisierend in den Medien berichtet. Immer mehr Händler wie auch Produzenten drängen in diesen Wachstumsmarkt – und international sind „Hemp Economics“ längst ein stehender Begriff für Großinvestoren. „Ich bin überzeugt, dass es schon in den nächsten Jahren weltweit Gesetzesänderungen geben wird, um Patienten eindeutige Qualitätsstandards zu garantieren“, greift Raphael Mechoulam ein wesentliches Problem der Branche auf.
Denn aufgrund fehlender eindeutiger gesetzlicher Regelungen bis hin zu einer EU-Vereinheitlichung haben Hersteller, wie auch Konsumenten das Nachsehen. Fehlende Herkunftsnachweise, unterschiedliche Prüfungsnormen oder mangelnde Aufklärung bringt eine ganze Branche mitunter in Verruf. „Seitens der Wissenschaft ist der Nutzen von Hanf in der Medizin längst bewiesen“, sagt Andrea Bamacher, die Gründerin und Geschäftsführerin einer der führenden europäischen Produzenten von Bio Hanflebensmitteln und Bio Hanfextrakten im österreichischen Burgenland, „jetzt geht es um Aufklärung und den Schutz der Konsumenten. Die meisten Betroffenen kaufen Hanfpräparate ohne ärztliche Rücksprache. Daher rate ich dringend sich nicht nur mit dem Gehalt an Cannabinoiden, sondern auch mit der Herkunft und möglichen Kontaminationen auseinanderzusetzen.“
Ob und wann es dem Hanf gelingen wird, sich einen fixen Platz in der Schulmedizin zu erobern, lässt sich heute nur schwer voraussagen. Nur so viel: Die Anwendung von Hanf für medizinische Zwecke kehrt langsam, aber stetig in die Heilpraxis zurück. Mehr und mehr Forschungsprojekte konzentrieren sich darauf eine Verbindung zwischen unterschiedlichen Hanfsorten und spezifisch-medizinischen Indikationen zu finden. Damit ist der erste Schritt von einer „Trial And Error“-Forschung getan zu einer präzisen Cannabinoid-Forschung und ein weiterer Schritt in Richtung individualisierter Medizin mit großen Vorteilen für den Patienten.
Noch Generationen an Wissenschaftlern werden am Hanf forschen, so wie der Hanf seit Jahrtausenden ein fixer Bestandteil im Leben des Menschen ist. Heute schon können Patienten Dank engagierter Mediziner der unterschiedlichen Disziplinen die Vorteile des Hanfes in der Therapie nutzen, wie es der Orthopäde und Schmerztherapeut Martin Pinsger auf die Frage nach der Zukunft der Cannabistherapie treffend formuliert: „Compassion. Auf Deutsch Barmherzigkeit. Zugegeben, ein sehr verstaubter Begriff, dennoch würde ich dazu empathisch oder würdevoll sagen. Denn eine empathische und würdevolle Schmerztherapie benötigt nicht nur Opiate, sondern genauso Cannabinoide. Schließlich sind beide endogenen Systeme die Eltern der Schmerztherapie.“ – um nur ein Beispiel für die erfolgreiche Anwendung von Hanf in der Medizin zu erwähnen.
Fazit: Die meisten Wissenschaftler sind sich heutzutage einig, dass Cannabinoide bei verschiedenen Erkrankungen einen therapeutischen Nutzen besitzen. Ob, und vor allem wie schnell sich diese Erkenntnis auch langfristig in der Schulmedizin durchsetzen wird, lässt sich aus heutiger Sicht nur schwer abschätzen. Gefordert ist hier nicht nur allein die Ärzteschaft, sondern in erster Linie ein mündiger Patient, sich aktiv an diesem Prozess zu beteiligen.
Zur Autorin: Dr. Tanja Bagar gehört als Präsidentin des Internationalen Instituts für Cannabinoide (ICANNA) mit Sitz in Ljubljana zu den herausragenden Forscherpersönlichkeiten auf ihrem Gebiet. Die Wissenschaftlerin setzt sich nicht nur für Grundlagenforschung, sondern auch für die Zusammenarbeit der unterschiedlichen Disziplinen ein. Ihr umfangreiches Wissen hat die Mikrobiologin jüngst in einem Buch zusammengefasst: „Die Hanf Medizin“.