Wer ADHS im Erwachsenenalter hat und medizinisches Cannabis benötigt, zum Beispiel, weil die Standardmedikamente entweder nicht anschlagen oder zu starke Nebenwirkungen haben, hat es derzeit besonders schwer. Denn auch wenn zahlreiche von ADHS Betroffene davon berichten, dass Cannabis die Symptome deutlich lindert und meist viel weniger Nebenwirkungen hat als die üblichen Medikamente, so heißt das noch lange nicht, dass den Patienten auch Glauben geschenkt wird.
Wäre medizinisches Cannabis bei ADHS im Erwachsenenalter nicht kontraindiziert?
Der Grund dafür ist, dass es noch keine wissenschaftlichen Beweise gibt, dass Cannabis bei adultem ADHS positiv auf die Symptome wirkt. Und die typischen Nebenwirkungen eines Cannabisrauschs wie Konzentrationsschwierigkeiten lassen Ärzte natürlich aufhorchen, denn das sind auch typische ADHS-Symptome. Würde medizinisches Cannabis den Zustand des Patienten nicht also sogar verschlechtern?
In der Praxis ist das Gegenteil der Fall. Zahlreiche Patienten berichten davon, dass eine geringe Dosis Cannabis ihre Konzentrationsfähigkeit sogar verbessert. Der Kopf, normalerweise gefangen in einem nicht enden wollenden Karussell aus Gedanken, ist endlich frei. Es kommt seltener zu einem Tunnelblick.
Die Betroffenen glauben nicht einmal sich selbst
Für einen nicht Betroffenen klingt das auch alles erst einmal absurd. Da berichten Leute ernsthaft, dass sie unter Cannabiseinfluss bessere Noten schreiben, besser Auto fahren und auch im Beruf bessere Leistungen erbringen. Die Wirkung von Cannabis auf diese Gruppe von Menschen ist derart paradox, dass viele Betroffene sie zunächst selbst nicht glauben. Was sich auch in den Biografien niederschlägt. Ein uns bekannter, besonders heftiger Fall hatte mit dem Berufseinstieg den Cannabiskonsum beendet und plötzlich schlugen die ADHS-Symptome voll durch. Zehn Jahre später war er nach mehrfachen Jobwechseln langzeitarbeitslos und sein Haus und seine Familie hatte er auch verloren. Da erinnerte er sich, wie gut sein Leben war, als er noch „kiffte“. Das Wort Selbstmedikation nutzte er damals noch nicht für sein Verhalten. Woher hätte er auch wissen sollen, dass er mit Cannabis unterbewusst eine Krankheit behandelte?
Endlich Klarheit?
Hier könnten wissenschaftliche Studien helfen, Klarheit zu schaffen. Diese durchzuführen, ist bei medizinischem Cannabis aber gar nicht so einfach, die Forschung ist in verschiedenen Ländern immer noch unterschiedlichsten Restriktionen unterworfen. Der Königsweg, der daraus besteht, einer Gruppe von Patienten medizinisches Cannabis zu geben und einer Kontrollgruppe ein Placebo, ist daher je nach Land der schwierigste und wurde daher bisher nur ein einziges Mal mit dem Fertigpräparat Sativex, das ungefähr in gleichen Teilen THC und CBD enthält, und einer sehr kleinen Gruppe von 30 Patienten am Kings College in London durchgeführt.
Die Studie wurde 2017 publiziert und förderte vielversprechende Ergebnisse zutage. Keiner der Patienten zeigte kognitive Einschränkungen, obwohl sie mit einem THC-reichen Mundspray behandelt wurden. Ob sich die kognitiven Leistungen auch verbesserten, konnte die Studie allerdings nicht herausfinden. Denn durch die geringe Anzahl an Teilnehmern war das statistische Rauschen einfach zu groß, um eine sichere Aussage treffen zu können. Das war auch gar nicht die Absicht der Studie. Diese sollte zunächst nur herausfinden, ob es da überhaupt etwas zu erforschen gibt und wie groß eine Studie angelegt sein müsste, um statistisch signifikante Ergebnisse zu erzielen. Dafür müsste man laut den Forschern die Studie mit mindesten 84 Teilnehmern wiederholen, besser aber mit mindestens 100. Und das ist seither nicht geschehen, obwohl die beobachtete Effektstärke von Sativex in einem Bereich war, den sonst nur Stimulanzien erreichen. Oder anders ausgedrückt: Wenn Sativex bzw. medizinisches Cannabis bei ADHS wirkt dann so gut wie Ritalin, Medikinet und Co.
Große Hürden
Seit 2017 sind nun schon ein paar Jahre ins Land gezogen und es gab noch keine Folgestudie am Kings College. Und auch in anderen Ländern sieht es weiter mau aus. So wurde Ende 2019 publik, dass eine medizinische Hochschule in Deutschland eine Studie zur Behandlung von ADHS mit medizinischen Cannabisblüten durchführen möchte, die dafür benötigten Gelder aber schon zum zweiten Mal in Folge in genehmigt wurden.
Nun wollen Wissenschaftler natürlich weiter am Einsatz von medizinischem Cannabis bei ADHS forschen. Und da die Hürden leider noch sehr hoch sind, versucht man auf alle möglichen anderen Wege, Indizien zu sammeln, ob medizinisches Cannabis bei ADHS hilfreich sein könnte oder nicht. Meistens stützt man sich dabei auf Befragungen von Patienten oder illegalen Konsumenten. Den daraus gewonnen Antworten haftet aber immer der Makel der Subjektivität an. Forscher aus Israel haben in einer 2020 publizierten Studie einen anderen, recht nahe liegenden, aber gleichzeitig innovativen Ansatz gewählt.
Um die Ecke gedacht
Israel ist in der medizinischen Anwendung von Cannabis einer der weltweit führenden Staaten und man kann die grüne Medizin bei einem breiten Spektrum von Krankheiten erhalten. ADHS im Erwachsenenalter gehört aber nicht dazu. Jetzt ist es aber so, dass adultes ADHS häufig mit Komorbiditäten einhergeht wie Depressionen, Tic-Störungen, Insomnie usw. Und für viele dieser Begleiterkrankungen kann man in Israel medizinisches Cannabis erhalten. Es gibt dort eine große Zahl an Patienten, die adultes ADHS haben und aufgrund einer anderen Krankheit mit medizinischem Cannabis oder anderen cannabinoidhaltigen Medikamenten behandelt werden.
Cannabis als Substitut für ADHS-Medikamente?
Wenn das medizinische Cannabis bei ADHS im Erwachsenenalter wirksam ist, dann sollte das auch Auswirkungen auf die sonstigen ADHS-Medikamente haben, die die Patienten zu sich nehmen. Wenn ein Patient zum Beispiel mit dem Beginn der Cannabistherapie seine bisherigen ADHS-Medikamente absetzt, so deutet das darauf hin, dass er sie mit dem medizinischen Cannabis substituiert. Das wäre dann auch ein Indiz, dass medizinisches Cannabis bei adultem ADHS tatsächlich wirkt, denn sonst wäre nicht zu erwarten, dass die Teilnehmer ihre sonstigen Medikamente freiwillig absetzen.
Die Studie geht aber noch weiter. Um die Theorie weiter abzusichern, wurde untersucht, ob es eine Dosis-Wirkung-Beziehung gibt und ob höhere Dosen an medizinischem Cannabis dazu führen, dass die Patienten häufiger ihre sonstigen Medikamente absetzen oder zumindest in der Dosierung anpassen. Zusätzlich wurde untersucht, ob Patienten, deren ADHS-Symptomatik schwächer ausgeprägt ist, auch häufiger die Medikamentierung ändern, wenn sie medizinisches Cannabis erhalten, denn auch das würde für eine Dosis-Wirkungs-Beziehung sprechen.
Auf Schatzsuche
Die Forscher wollten aber noch einen Schritt weitergehen und erfragten bei allen Patienten die genauen Sorten, die sie erhalten. Wenn möglich, wurden die Inhaltsstoffe bestimmt in der Hoffnung herauszufinden, ob neben THC und CBD noch weitere Substanzen aus der Cannabispflanze für die Wirkung bei ADHS verantwortlich sein konnten.
Die Ergebnisse
Von den 59 Teilnehmern berichteten etwa zwei Drittel, dass Sie ihre bisherige ADHS-Medikation nach Beginn der Therapie mit medizinischem Cannabis angepasst hätten. Davon hat wiederum die Hälfte die Medikation komplett durch das medizinische Cannabis substituiert. Teilt man die Patienten in zwei Gruppen mit leichter und schwerer ADHS-Symptomatik, fällt auf, dass Patienten mit leichter Symptomatik signifikant häufiger die ADHS-Medikamente durch Cannabis substituieren können, nämlich ca. 50 %. Teilt man nach niedriger und hoher monatlicher Dosis an medizinischem Cannabis, so zeigt sich ein fast identisches Bild. In der Gruppe mit der höheren Dosis substituieren die Patienten signifikant häufiger ihre ADHS-Medikamente vollständig durch medizinisches Cannabis, und zwar ebenfalls etwa 50 %. Damit wäre auch eine Dosis-Wirkungs-Beziehung hergestellt.
Hilft CBN bei ADHS?
Die Forscher haben sich auch die Mühe gemacht, wenn möglich, die chemische Zusammensetzung der verwendeten Cannabissorten zu bestimmen und haben eine Korrelation zwischen hohem Gehalt an Cannabinol (CBN) und geringeren ADHS-Symptomen entdeckt, während eine höhere THC-Dosis nicht damit korreliert. Da CBN ein Metabolit von THC ist, sind die Forscher über dieses Ergebnis etwas verwundert, weitere Forschung wäre notwendig. Sollte es sich bewahrheiten und CBN wirksam bei ADHS sein, so würde das bedeuten, dass man eine THC-reiche Sorte einfach eine Zeit lang liegen lassen könnte, um ihre Wirkung zu verbessern. Man könnte sie auch gezielt mit UV bestrahlen, um CBN aus THC zu erzeugen.
Nur ein Drittel?
Die meisten bisherigen Studien zu AHDS und medizinischem Cannabis kranken daran, dass sie auf subjektiven Aussagen beruhen. Wenn nun Patienten ihre bisherige Medikation anpassen, so deutet das auf eine tatsächliche Wirkung hin. Theoretisch könne es sich auch um reine Wechselwirkungen mit den normalerweise bei ADHS verschriebenen Stimulanzien handeln. Da aber die Hälfte derjenigen, die ihre Medikation angepasst haben, diese komplett durch medizinisches Cannabis ersetzt haben, deutet das darauf hin, dass medizinisches Cannabis bei ADHS tatsächlich auf die Symptome wirkt und nicht nur mit anderen Medikamenten wechselwirkt.
Wenn aber gerade einmal ein Drittel der Patienten ihre bisherige Medikation vollständig substituiert, klingt das nach nicht gerade viel. Man muss aber bedenken, dass die Patienten von sich aus darauf kommen müssen, ihre Medikamente abzusetzen und zu testen, ob das medizinische Cannabis ebenfalls hilft. Gerade diejenigen, die medikamentös gut eingestellt sind, werden wohl keine zusätzliche Besserung durch medizinisches Cannabis erfahren und daher gar nicht erst auf die Idee kommen, es mal ohne die gewohnten Medikamente zu versuchen. Dahin gehend ist eine Quote von einem Drittel schon ziemlich gut.
Überschätzung oder Unterschätzung?
Immer wieder wird Patienten, die medizinisches Cannabis erhalten, vorgeworfen, dass sie die Wirkung des Krautes überschätzen oder übertreiben würden. Könnte es aber sein, dass die Wirkung von medizinischem Cannabis systematisch unterschätzt wird? Es gibt zwei weitere Studien, in denen ADHS als Komorbidität als Beifang mit untersucht wurde. Die erste Studie stammt von 2019 und untersuchte vornehmlich die Wirkung von medizinischem Cannabis auf das Gilles de la Tourette Syndrom (GTS). Bei dieser Krankheit ist ADHS eine häufige Komorbidität. Etwa die Hälfte der Patienten, die ADHS als Komorbidität angaben und mit Medizinal-Cannabisblüten behandelt wurden, gaben in einem semistrukturierten Interview ebenfalls an, dass das medizinische Cannabis auch bei ihren ADHS-Symptomen helfen würde. Diese Angaben sind auf Linie mit denen der israelischen Studie, wonach zwei Drittel ihre Medikation änderten und ein Drittel sogar komplett einstellte.
Im Jahr 2017 wurde ebenfalls eine Studie zu medizinischem Cannabis bei GTS veröffentlicht, die ADHS als Komorbidität mit untersuchte. Dabei wurden die Patienten anhand der Adult ADHD Self-Report Scale (ASRS) befragt. Von den 21 Patienten hatten 13 einen ASRS-Wert, der adultes ADHS nahelegt (nur 11 hatten eine gesicherte ADHS-Diagnose). Wurden die Patienten nach Einnahme von medizinischem Cannabis befragt, erfüllte nur noch ein Patient die Kriterien für adultes ADHS nach der ASRS während der Rest (ca. 92 %) darunter lag. Der Unterschied zur Studie von 2019 ist hier, dass die Bewertung rein anhand der Symptome und durch die Wissenschaftler stattfand, was die Subjektivität etwas reduziert.
Fazit
Die israelische Studie zeigt, welche Verrenkungen auch im 2020 noch gemacht werden müssen, um an der Wirksamkeit von medizinischem Cannabis bei ADHS forschen zu können. Die Ergebnisse sind vielversprechend und ein weiterer Puzzlestein zur Beantwortung der Frage, ob medizinisches Cannabis bei ADHS hilfreich sein kann. Der Weg über die Komorbiditäten führt allerdings eine Unschärfe hinzu. Wir warten daher weiter auf eine großangelegte, placebokontrollierte Studie zu medizinischem Cannabis bei ADHS.