Im Jahr 1927, vor nun fast einem Jahrhundert, sitzt einer der einflussreichsten deutschen Philosophen des Jahrhunderts in seinem Zimmer in Berlin und experimentiert mit Haschisch, um zu wertvollen Einsichten zu gelangen. Walter Benjamin will die Arbeit des Pariser „Club des Hashashins“ weiterführen, in welchem zwischen 1844 und 49 einige der berühmtesten französischen Intellektuellen und Künstler ihrer Zeit hoch dosiertes Haschisch Konfekt zu sich genommen hatten.
Unter den Teilnehmern waren unter anderem Charles Baudelaire (Die Blumen des Bösen), Alexandre Dumas der Ältere (Die drei Musketiere), Victor Hugo (Der Glöckner von Notre Dame), und der Maler Eugène Delacroix. Der Haschisch Club war vom Psychiater Jacques Joseph Moreau de Tours gegründet worden, um die psychischen Wirkungen von Cannabis zu erkunden.
Walter Benjamins Haschisch-Einsichten
Benjamin plant ein großes Buch über Haschisch, welches er leider nie realisieren wird. Auf der Flucht vor den Nazis begeht der jüdische Philosoph 1940 an der französisch-spanischen Grenze in Portbou vermutlich Suizid, möglicherweise wird er auch ermordet, nachdem ihm die Einreise verweigert wird. Sein letztes Manuskript verschwindet. Was bleibt, sind einige seiner posthum veröffentlichten Protokolle, die in der Sammlung „Über Haschisch“ beim Suhrkamp Verlag erschienen. Bei genauer Analyse von Benjamins oft etwas kryptischen Notizen zeigt sich, dass er ein ganzes Spektrum positiver mentaler Effekte des Cannabis Highs auf sein Bewusstsein detailliert beschrieb, darunter die verbesserte Fähigkeit, sich an vergangene Ereignisse zu erinnern, Bilder zu imaginieren, Muster verschiedener Art besser zu erkennen, einen schnellen Fluss der Gedanken zu erleben, sich besser in andere Menschen empathisch hineinversetzen zu können sowie tiefe spontane Einsichten zu gewinnen.
In meiner 2015 publizierten Essay-Sammlung What Hashish Did to Walter Benjamin argumentiere ich, dass die Einsichten, zu denen Benjamin mit Hilfe seiner Cannabis Erfahrungen gelangte, möglicherweise Schlüsselideen für eines seiner einflussreichsten Werke überhaupt waren, seinen Essay „Die Kunst im Zeitalter der mechanischen Reproduktion“.
Die Tagträume Ernst Blochs
Benjamins Freund, der Philosoph Ernst Bloch, nimmt an den Haschisch Experimenten teil. Blochs Kritik an der bürgerlichen Gesellschaft und seine Hoffnung auf eine bessere Welt, vorgetragen in seinem Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung (1954), werden ihn später zu einer Schlüsselfigur der 68er-Bewegung und zum Freund Rudi Dutschke machen. Zentral für den Neo-Marxisten Bloch ist, dass er den Menschen nicht wie für Marxisten üblich als hauptsächlich von seiner Umwelt geprägt sieht, sondern betont, dass der Mensch von seiner eigenen Vorstellungskraft und den Utopien definiert wird, auf welche er hinlebt.
In der Literatur über Bloch wird übersehen, dass seine Haschischerfahrungen möglicherweise prägend waren. Bloch selbst beschreibt in seinem Hauptwerk sehr genau, dass Haschisch ihm eine verbesserte Fähigkeit zur Imagination ermöglichte – oder, wie er es beschreibt, „Tagträume“, die er bei klarem Denken erlebt, eine Fähigkeit, die er wiederum als wichtigen Treiber einer positiven revolutionären Kraft für die Gesellschaft sieht. Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum zufällig zu sein, dass die weltweiten visionären Studentenrevolten und Bürgerrechtsbewegungen der 1968er Jahre mit dem Gebrauch von Substanzen wie Cannabis und LSD einhergingen.
2 „Mexican Sativa Trichomes“, limited art edition of 5 pieces, by Sebastián Marincolo
Die lange Geschichte der gezielten bewusstseinsverändernden Nutzung von Cannabis
Benjamin und Bloch sind nicht die einzigen oder gar ersten, die ein Cannabis High gezielt nutzten. Der schamanische Gebrauch von Cannabis zur Bewusstseinsveränderung geht Jahrtausende zurück und es existieren etwa Texte aus dem 7. Jahrhundert, die detailliert beschreiben, wie Cannabis in tantrischen Ritualen genutzt wird: für Konzentrationsfähigkeit und meditative Versenkung, zur Stärkung der Imaginationsfähigkeit und zum besseren empathischen Verstehen des Partners in sexuellen Ritualen und um zum Zustand einer vollständigen Befreiung des Bewusstseins durch sexuelle Ekstase zu gelangen. Zu den weiteren vielen prominenten modernen Nutzern des Cannabis Highs gehören unter anderem Lord Byron, Rudyard Kipling (Das Dschungelbuch), Marcel Proust (Auf der Suche nach der verlorenen Zeit), William Butler Yeats, Mark Twain (Die Abenteuer des Huckleberry Finn), Jack London (Der Seewolf), Robert Anton Wilson, Filmemacher Francis Ford Coppola (Apocalypse Now), Hal Ashby (Harold and Maude), Louis Armstrong, Bob Marley, Bob Dylan, die Beatles, der Physiknobelpreisträger Richard Feynman, Nobelpreisträger Francis Crick, und der Neurologe Oliver Sacks.
Der Astronom, NASA Berater und Wissenschaftspopulist Carl Sagan nutzt Cannabis regelmäßig, um Ideen für seine Arbeit zu generieren:
Sagan überzeugt seinen Freund, den Harvard Psychiatrie Prof. Lester Grinspoon, dass Cannabis weit weniger gefährlich ist, als dieser angenommen hatte, und beschreibt ihm das positive Potenzial des Highs für sein Denken. Lester Grinspoon schreibt daraufhin zur Verärgerung des Prohibitionisten Richard Nixon 1971 ein extrem liberales und für die Legalisierung argumentierendes Buch Marijuana Reconsidered und wird zu einem der wichtigsten Wegbereiter für Cannabinoid-Medizin weltweit. Er beginnt später auf seiner Webseite marijuana-uses.com, Berichte und Essays zu sammeln über die „enhancements“ von Cannabis, wie er sie nennt, die vielseitigen Bereicherungen des Bewusstseins während eines Highs.
Als ich Ende der 1990er-Jahre begann, über das Potenzial des Highs zu forschen, hatte ich viele dieser enhancements selbst erlebt, ohne etwas davon gelesen zu haben. Während meiner Recherche für mein erstes Buch High. Insights on Marijuana, kontaktierte ich Lester 2008, dessen Arbeit Recherchen zu einer meiner wichtigsten Quellen geworden war. Lester war begeistert von meiner Forschung und bat mich, mit ihm ein Buch herauszugeben. Er wurde für mich bis zu seinem Tod im Jahr 2020 zu einem wunderbaren Mentor und Freund.
Dazed and Confused
Könnte es aber nicht sein, dass diese prominenten Cannabis Nutzer einfach von sich aus sehr begabt waren und sich über den wahren Einfluss des Highs täuschten – vielleicht auch, um den Gebrauch einer verbotenen Substanz zu rechtfertigen? Was ist mit den unzähligen Berichten derer, die sich während eines Highs eher benommen und verwirrt („dazed and confused“) fühlten? Mein Favorit in Sachen „dazed and confused“- Berichten ist immer noch das Gegenstück zu Sagans Dusch-Episode, die Erfahrung eines indonesischen Bekannten von mir, der ebenfalls sehr high unter der Dusche steht. Er gießt sich Shampoo in die Haare und reibt, aber es schäumt nicht und klebt an ihm wie Motoröl. Er betrachtet die Flasche: tatsächlich, Shampoo! Erst eine gefühlte Ewigkeit später bemerkt er das Problem: Er hatte vergessen, das Wasser anzustellen.
Was also nun? Kann ein High vorübergehend zur Verbesserung mentaler Funktionen führen oder werden diese eher verschlechtert? In meinem Buch „High. Das positive Potenzial“ habe ich das Surfbrett als eine zentrale Metapher für das Cannabis High beschrieben, um diesen scheinbaren Widerspruch aufzulösen. Ein Surfboard ist ein sehr gutes Werkzeug, großartige Erlebnisse in den Wellen zu haben – aber nur mit Können und Wissen. Ähnlich ist es mit Cannabis und anderen psychoaktiven Substanzen, die man ebenfalls als Werkzeug sehen kann. Wenn ich weiß, in welcher Umgebung und in welcher Stimmung ich eine bestimmte Dosis für eine bestimmte Situation nutzen kann, kann ich profitieren; wenn nicht, kann ich mich in Gefahr bringen oder verschiedene Dummheiten begehen. Und eines muss klar sein, auch wenn sich während eines Highs einige mentale Fähigkeiten temporär verbessern können, verschlechtern sich gleichzeitig andere. Durch eine verstärkte Fokussierung der Aufmerksamkeit auf den Geschmack einer Medjoul Dattel, erlebe ich den Geschmack intensiver und detaillierter; gleichzeitig verliere ich aber eventuell das Zeitgefühl und vergesse einen Termin.
Die Kunst des Highs
In meinem Handbuch Die Kunst des Highs erkläre ich, wie man ein mental klares High erzeugen kann, bei dem man seine Aufmerksamkeit über längere Zeiträume fokussiert, sich besser an vergangene Erlebnisse erinnert, seine Mustererkennung verbessert, seine Kreativität bereichert, die Wahrnehmung seines eigenen Körpers intensiviert, introspektive und empathische Einsichten gewinnt und sein Liebesleben bereichert. Das Buch ist auch gedacht als Ratgeber für medizinische Cannabispatienten, die mit der Psychoaktivität von Cannabis umgehen oder sie nutzen wollen. Die Kunst des Highs soll Menschen helfen, zu einem sinnvollen Umgang mit Cannabis im Leben zu kommen und z. B. das Risiko von chronisch eskapistischen Gebrauches zu minimieren, bei dem viele das High nur noch als Möglichkeit sehen, der Realität ins Hier-und-Jetzt zu entfliehen.
Eine neue Sicht auf das Cannabis High
Meine Grundlagenforschung zum High wirft viele Fragen auf: Spielt das Endocannabinoid-System eventuell eine große Rolle bei komplexen mentalen Prozessen wie empathischem Verstehen? Können wir Cannabis in der Psychotherapie einsetzen? Meine Arbeit hat auch direkte Implikationen für individuelle Cannabis Nutzer sowie für unser historisches Verständnis des kulturhistorischen Einflusses von Cannabis auf die Gesellschaft. Welchen frühen Einfluss hatte Cannabis auf die Entwicklung von Techniken wie Meditation, auf die Entwicklung von Religionen wie Hinduismus, Buddhismus oder Sufismus? Auf die frühe Evolution des Jazz in den USA? Auf andere musikalische Traditionen wie Reggae, Pop, Hip-Hop und viele weitere?
Cannabis Nutzer – und natürlich auch Nutzer anderer psychoaktiven Substanzen – hatten und haben durch ihr Bücher, ihre Bilder, Filme und ihre Musik einen großen Einfluss auf menschliche Kulturen. Durch meine Forschung habe ich viel über die Natur menschlichen Bewusstseins selbst gelernt, wie über Empathie oder Kreativität. In meinem kürzlich erschienenen Buch Elevated untersuche ich unter anderem Studien zum Thema Cannabis und Kreativität und komme anders als viele andere zum Schluss, dass Cannabis von Nutzern mit Know-how zu vielfältigen Verbesserungen von kreativen Fähigkeiten gebraucht werden kann.
Wenn man die Ergebnisse meiner Arbeit ernst nimmt, sollte man oft benutzte Begriffe wie „Genusskonsum“ überdenken. Viele nutzen Cannabis für ein ganzes Spektrum an mentalen Bereicherungen. Auch wenn es leider noch viel eskapistischen Missbrauch gibt, gibt es diejenigen, die Cannabis nutzen, um ein Essen zu genießen, um erfinderisch zu kochen, kreativ zu arbeiten, Musik besser wahrzunehmen oder zu erschaffen, neue Muster in ihrem Leben zu entdecken, sich empathisch besser in ihre Partner oder Freunde hineinzuversetzen, großartige Konversationen zu führen, ihr Liebesleben zu bereichern oder tiefe introspektive Einsichten zu gewinnen und sich persönlich zu entwickeln. Und es scheint mir fragwürdig, ob ein Staat das Recht hat, dies alles Menschen zu verbieten, solange sie nicht andere damit beeinträchtigen.
Sebastián Marincolo ist promovierter Philosoph und hat zahlreiche Artikel und vier Bücher über das positive Potenzial des Cannabis Highs veröffentlicht. Über seine Arbeit wurde weltweit berichtet, unter anderem im Spiegel Online, bei 3sat/ZDF, im Deutschlandfunk, bei tportal Kroatien und in Aidan McCullen’s Innovation Show. Sein letztes Buch „Elevated. Cannabis as a Tool for Mind Enhancement“ erschien 2023 bei Hilaritas Press, dem Verlag der Tochter des legendären Autors Robert Anton Wilson. Marincolo lebt zurzeit bei Frankfurt am Main und arbeitet als Autor, Berater und Konzeptioner. Sein Blog über das Cannabis High ist auf seiner Homepage sebastianmarincolo.de