Anfang 2019 habe ich, damals noch als Mitarbeiter der deutschen medizinischen Tochter des kanadischen Cannabisunternehmens Canopy Growth, hier im Hanf Magazin einen Artikel zu medizinischem Cannabis aus europäischer Perspektive geschrieben und die Frage in den Raum geworfen, ob Kanada hier als Vorbild herangezogen werden sollte. Meine Antwort damals: Jein.
Diese Frage ist hierzulande, gerade im Hinblick auf die Diskussion über die Legalisierung von Freizeitcannabis für Erwachsene und deren Konsequenzen für den medizinischen Bereich, aktueller denn je. Aber kann Kanada als Vorbild für Deutschland dienen und was ist eigentlich mit dem medizinischen Bereich seit der Legalisierung von recreational Cannabis in Kanada 2018?
Vorbild Kanada?
Direkt am Anfang dieses Artikels möchte ich klarstellen, dass ich prinzipiell – wie auch mein ehemaliger und aktueller Arbeitgeber – gegen jede Form von Prohibition bin: Dies gilt hauptsächlich für das Thema Cannabis, das ich nun seit 5 Jahren in Europa eng begleite.
Dies ist eine wichtige Vorbemerkung, da mir in erster Linie der medizinische Bereich am Herzen liegt und dieser jede Diskussion zum Thema Cannabis dominieren sollte. Dem ist aber definitiv nicht so, wie die Diskussion in Deutschland zum Thema Cannabis zeigt, die auf dem medizinischen Auge blind zu sein scheint. Die Diskussion wird viel zu oft politisch oder ideologisch geführt und der medizinische Aspekt grob vernachlässigt: Es geht um eine Revolution! Eine Zeitenwende! Sollte es nicht eigentlich vor allem um die Themen Gesundheits- und Jugendschutz gehen?
Meiner Meinung nach ist diese Art der Diskussion auch ein Erbe aus Kanada: hier hat man angesichts der verlockenden Margen im Bereich Freizeitcannabis in den Hochzeiten des „Green-Rush“ auf dem Aktienmarkt angefangen, den vorher so zentralen medizinischen Bereich stiefmütterlich – als Steigbügelhalter für die Legalisierung von Freizeitcannabis – zu behandeln. Zugleich sind die hohen Prognosen zum Wachstum des Cannabismarkts nicht eingetroffen.
In meinem Artikel von 2019 zitierte ich eine Prognose von Deloitte Canada, wonach der gesamte Cannabismarkt in Canada im Jahr 2019 einen Umsatz von bis zu 7,17 Milliarden US-Dollar generieren wird. Davon sollten rund 4,34 Milliarden US-Dollar auf den legalen Freizeitmarkt entfallen. Es wurde erwartet, dass medizinisches Cannabis zusätzliche 0,77 bis 1,79 Milliarden US-Dollar generiert.
Faktisch wurde in Kanada 2019 insgesamt ein Umsatz von 0,85 Milliarden EUR im legalen Bereich generiert – weit unter den Prognosen und hauptsächlich im Bereich Freizeitcannabis. Zugleich erfolgte und erfolgt nach wie vor auch im medizinischen Bereich ein beträchtlicher Anteil des Umsatzes auf dem illegalen Markt, der nicht so zurückgedrängt werden konnte, wie erwartet.
Natürlich ist es so, dass Kanada und Deutschland völlig unterschiedliche Rahmenbedingungen aufweisen, sodass ein direkter Vergleich wenig aufschlussreich sein kann. Im Gegensatz zu Deutschland spielen Apotheken in Kanada keine große Rolle. Kanadische Patienten, die vom Arzt eine schriftliche Genehmigung (Authorization) erhalten haben, beziehen medizinisches Cannabis direkt bei einem lizenzierten Hersteller oder bauen selbst an. Aber der entscheidende Unterschied liegt im Bereich Kostenerstattung für die Therapie mit medizinischem Cannabis durch die gesetzlichen Krankenversicherungen, die in Deutschland mit dem Gesetz „Cannabis als Medizin“ von 2017 fest verankert wurde, wohingegen medizinische Cannabispatienten in Kanada grundsätzlich Selbstzahler sind.
Vorbild Kolumbien!
Auf den ersten Blick muss jeder Vergleich zwischen Deutschland und Kolumbien hinken. Im Bereich medizinisches Cannabis drängt sich ein Vergleich zwischen Deutschland und Kolumbien aufgrund einer zentralen Gemeinsamkeit aber förmlich auf: so wie Deutschland in Europa über den größten Markt für medizinisches Cannabis verfügt, ist dies auch bei Kolumbien für Südamerika der Fall. Die Erstattung der Therapiekosten durch die gesetzliche Krankenversicherung ist dafür jeweils der entscheidende Faktor: zum einen für den einzelnen Patienten, der neben seiner Krankheit auch unter dem Kostendruck als Selbstzahler leidet, und zum anderen für das allgemeine Wachstum des nationalen Marktes für medizinisches Cannabis.
Im Januar hat das Hanf Magazin über die Entscheidung der kolumbianischen Regierung um Präsident Gustavo Petro und Vizepräsidentin Francia Márquez berichtet, wonach Cannabistherapien seit diesem Jahr verpflichtend von den Krankenkassen übernommen werden. Dieser Entscheidung lag eine Analyse der Evidenzsituation zu verschiedenen Indikationen zugrunde, wonach sich in vielen Fällen eine so erdrückende Beweislast für das Potenzial der Pflanze feststellen lässt, dass eine Aufnahme in die Liste der gängigen Behandlungsmöglichkeiten nur logisch ist. Die Wirksamkeit von medizinischem Cannabis wurde explizit bestätigt bei Erkrankungen wie chronischen und neuropathischen Schmerzen, bei Schlafstörungen, Epilepsie, Fibromyalgie oder gegen die Nebenwirkungen der Chemotherapie bei Krebserkrankungen.
Kolumbien verfolgt einen streng evidenzbasierten Ansatz in Bezug auf Cannabis, wobei das südamerikanische Land wohl wie kein anderes Land auf der Welt unter der Prohibition und dem „War on Drugs“ leiden musste. Die Anekdoten unseres CEOs Alvaro Torres, dass in den 1990er-Jahren in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá die Schulen geschlossen wurden, wenn am Vortag einmal mehr eine Entführung stattgefunden hat, lassen uns Europäer erschaudern. Vor diesem Hintergrund ist auch nachvollziehbar, dass getrocknete Cannabisblüten in Kolumbien im medizinischen Bereich nicht eingesetzt werden und der medizinische Markt in Kolumbien von Vollspektrumextrakten dominiert ist.
Als Kommunikationsverantwortlicher des kolumbianisch-stämmigen Unternehmens Khiron Life Sciences in Europa habe ich diese positive gesundheitspolitische Entscheidung der kolumbianischen Regierung und die Rolle meiner südamerikanischen Kollegen dabei natürlich hautnah mitverfolgt. Zugleich hat das Hanf Magazin meinen europäischen Kollegen und mir aus der Seele gesprochen, als auf Grundlage dieser Entscheidung in Kolumbien und angesichts der befürchteten Verschärfung der Erstattungspraxis in Deutschland durch den G-BA neidvoll auf Kolumbien geblickt wurde. In Deutschland stand das vielleicht offenste medizinische Cannabisgesetz weltweit, etwa hinsichtlich der ohnehin bereits schwierigen Erstattungspraxis bei getrockneten Cannabisblüten, auf dem Spiel. Dabei steht außer Frage, dass jede Darreichungsform im Bereich medizinisches Cannabis seine individuellen Vor- und Nachteile hat und fester Bestandteil des Werkzeugkastens von verschreibenden Ärzten sein muss.
Die Zukunft von medizinischem Cannabis in Deutschland
Deutschland hat den vergleichsweise größten und reifsten Markt für medizinisches Cannabis in Europa, wobei die indikationsoffene Erstattung für Patienten mit „schwerwiegenden Erkrankungen“ durch die gesetzlichen Krankenkassen eine entscheidende Rolle spielt. Jeder Arzt in Deutschland (außer Tier- und Zahnärzte) darf getrocknete Cannabisblüten und -extrakte verschreiben. Die Krankenkassen müssen in der Regel die Kosten für die Therapie übernehmen. Das medizinische Cannabisgesetz in Deutschland ist seit März 2017 in Kraft, wobei die Möglichkeit der Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankenkassen von Anfang an geschaffen wurde.
Die Entscheidung des Gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA) im März 2023 ist glücklicherweise anders ausgefallen als befürchtet. Nach Auswertung der Daten der seit 2017 durchgeführten Begleiterhebung zur Verordnung von medizinischem Cannabis als Leistung der gesetzlichen Krankenversicherung wurde unter anderem beschlossen, dass getrocknete Cannabisblüten ebenso wie Cannabisextrakte erstattungsfähig bleiben und weiterhin auch von Hausärzten verschrieben werden können. Zwar bleibt der Genehmigungsvorbehalt des Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) erhalten, jedoch ist die Entscheidung des G-BA insgesamt als klares Statement für „Medical First“ zu interpretieren.
Aus meiner Sicht ein Lichtblick in den faktischen Entscheidungen zum Thema Cannabis in Deutschland der letzten Jahre. Im Vergleich dazu mutet die seit Ende 2021 andauernde Diskussion zur Legalisierung von Freizeitcannabis für Erwachsene sehr virtuell an. Auch die Qualität der Diskussion lässt sehr zu wünschen übrig. So werden etwa längst widerlegte Klischees und Stigmatisierungen, wonach Cannabis eine Einstiegsdroge und verantwortlich für Psychosen sei, regelmäßig bemüht und unkontrolliert in die hinkende Debatte geworfen. In der Konsequenz werden viele wichtigen Aspekte der Legalisierung, etwa was Produktion und Vertrieb betrifft, selbst im sogenannten Eckpunktepapier von Gesundheitsminister Lauterbach aus dem Oktober 2022 nicht geklärt.
Eigentlich hat dieser für Ende März 2023 ein Gesetzentwurf angekündigt. Jedoch scheinen die rechtlichen Hürden im Zusammenhang mit Europarecht und internationalem Recht viel höher zu sein, als von den handelnden Personen antizipiert. Jetzt soll eine Legalisierung in zwei Schritten erfolgen und zunächst die Entkriminalisierung von Konsumenten und die Einführung von Modellprojekten und Cannabis Social Clubs zum Gegenstand haben. Der entsprechende Gesetzentwurf wurde im April 2023 angekündigt: wenn Sie diese Zeilen lesen, dürfte der Entwurf bekannt sein …
Aber zurück zum medizinischen Cannabismarkt in Deutschland, der mit einem Markt für Selbstzahler und einem Markt für Patienten mit Kostenerstattung de facto aus zwei Märkten besteht. Beide Märkte wachsen kontinuierlich und zählen insgesamt etwa 80.000 bis 120.000 Patienten. Konservative Schätzungen zur potenziellen Größe eines nationalen Cannabismarkts gehen von 1 % der Gesamtbevölkerung aus. In Deutschland wären das über 800.000 Patienten. Das unberührte Potenzial ist also noch sehr hoch. Zugleich zeigen die Umsätze im Bereich medizinisches Cannabis von Quartal zu Quartal ein beeindruckendes Wachstum, wobei sich auch neue Trends abzeichnen: Allein im Vergleich zwischen Q3 2022 und Q3 2021 ist bei getrockneten Cannabisblüten, die über die gesetzlichen Krankenversicherungen abgerechnet wurden, ein Umsatzanstieg um 9 Millionen Euro zu verzeichnen, dies entspricht zusätzlich 6000 Rezepten.
Bei Cannabisextrakten ergibt sich sogar noch ein deutlich stärkeres Wachstum. Im Vergleich dazu ist der Bruttoumsatz von dem bekannten Cannabiswirkstoff Dronabinol in diesem Zeitraum sogar rückläufig, obwohl mehr Rezepte generiert wurden: Hier ist der Wert pro Rezept deutlich zurückgegangen und der Preisverfall verdeutlicht einen Trend in Richtung von Cannabisextrakten, die traditionell (nicht nur in Südamerika) ein zentraler Bestandteil jedes medizinischen Portfolios sind.
Ausblick
Ich wünsche mir ein höheres Niveau in der Diskussion zum Thema Cannabis. Dieses ist unerlässlich, wenn wir als Industrie die nächste Stufe in unserem Reifeprozess erreichen wollen. Aus meiner Sicht schulden wir dies einer stetig wachsenden Zahl von Patienten. Daher kann ich wichtige Diskussionen, wie um ein Reinheitsgebot bei Cannabis, aus medizinischer Perspektive nur als trivial und virtuell einordnen.
Wir müssen uns wieder primär auf den medizinischen Bereich fokussieren und dürfen uns nicht von Scheindiskussionen und Nebelkerzen ablenken lassen. Die Diskussion sollte sich wieder in erster Linie um die Vereinfachung des Zugangs zu Therapien mit medizinischem Cannabis für Patienten drehen. Die Gesetzgebung muss entsprechend überarbeitet werden, auch um einheitliche und klare Regularien zu schaffen und unnötige Mehrkosten im Sinne der wachsenden Patientenzahl zu vermeiden.
In diesem Zusammenhang freut mich, dass politische, ideologische und esoterische Aspekte in der Diskussion kontinuierlich abnehmen. Es geht immer weniger um eine „Haltung“ oder eine „Meinung“, sondern um Evidenz. Während zu meiner Anfangszeit in dieser Industrie zur Kategorisierung von medizinischen Cannabisprodukten fast ausschließlich über Terpenprofile oder den Effekt von Indica- vs. Sativa-Sorten diskutiert wurde, werden heute Chemotypen selbstverständlich zur Klassifizierung von Cannabis herangezogen und die Wichtigkeit verschiedener Darreichungsformen mit Daten unterlegt. Insgesamt ist die Bedeutung von wissenschaftlichen Argumenten im Vergleich zu esoterischen Aspekten größer geworden. Selbstverständlich wird die spirituelle Dimension von Cannabis in der persönlichen Entscheidung für diese Therapieoption immer eine Rolle spielen, jedoch müssen klinische Daten immer der ausschlaggebende Punkt sein.
Wir müssen in Deutschland beim Auf- und Ausbau einer Cannabisindustrie neue und eigene Wege gehen. Allerdings wäre es fahrlässig, wenn wir dabei nicht die Erfahrungen aus anderen Ländern berücksichtigten und diese Analyse in unser Handeln einfließen lassen würden. Vor diesem Hintergrund kann Kanada für Deutschland, im Gegensatz zu Kolumbien, kaum als Vorbild gelten. Vielleicht muss ich das als Mitarbeiter von Khiron Life Sciences auch so sagen, aber ich habe die Bedeutung von klinischen Daten immer als zentral im Bereich medizinisches Cannabis empfunden, gerade weil ein progressiverer Umgang mit Cannabis häufig mit Verweis auf die Evidenzsituation verhindert wird.
Daher freut es mich sehr, dass wir mit dem Cannabisvollspektrumextrakt KHIRIOX 12/14 im April ein Medikament nach Deutschland und Großbritannien bringen, das im Cannabissegment aufgrund seiner vielfach untersuchten Evidenzlage einzigartig sein wird.
KHIRIOX 12/14 ist die am häufigsten verschriebene THC-haltige Formulierung in Lateinamerika des Chemotyps II, mit fast 50.000 vertriebenen Flaschen von 2020 bis heute. Der Extrakt wurde in einer im März 2022 in Frontiers in Pain Research veröffentlichten Studien hinsichtlich seiner Wirksamkeit bei Patienten mit unterschiedlichen Indikationen untersucht – mit einem besonderen Fokus auf den Anwendungsbereich chronische Schmerzen. Erst klinische Daten ermöglichen es Verschreibern, fundierte Entscheidungen für ihre Patienten zu treffen und Risiken zu verringern. Das ist die Zukunft der seit über 5000 Jahren genutzten Heilpflanze.
Der Autor: Peter Leis, PR-Manager, Frankfurt a. M.
Der Absolvent der Politischen Wissenschaft, Psychologie und Rechtswissenschaften ist seit 2021 Kommunikationsverantwortlicher des internationalen Unternehmens für medizinisches Cannabis Khiron Life Sciences/Frankfurt am Main.
Er war bis Juni 2020 als PR-Manager in der Europazentrale der kanadischen Canopy Growth Corporation tätig und zählt mit über 5 Jahren Erfahrung zu den Pionieren der noch jungen Cannabisindustrie in Deutschland. Sein Erkenntnisinteresse beim Thema Cannabis liegt neben ökonomischen, natur- und sozialwissenschaftlichen Fragen auch in Bereichen wie Ethnologie und Religion.