Der Berliner Senat unterstützt die Pläne der Bundesregierung, Cannabis zu legalisieren. In der Hauptstadt sind wechselnde Mehrheiten aus Grünen, SPD und Linke nicht erst seit der Diskussion zum Berliner Coffeeshop-Modellprojekt um eine liberale Cannabis-Politik bemüht. Berlin ist mit seiner 15 Gramm Regelung und der geringen Hemmschwelle beim öffentlichen Kiffen fraglos Deutschlands grasgrüne Lunge. Das wiederum stört die AfD. Die rechtsaußen Partei hat zu Cannabis mit Ausnahme eines kategorischen „Nein“ wenig zu sagen. Doch wenn es um Zahlen und Statistiken zu Cannabis oder anderen Drogen geht, schicken die Berliner AfD-Abgeordneten dem Senat gerne Kleine Anfragen.
Windige Datengrundlage der WHO
So auch im Juli dieses Jahres. Da wollten Dr. Kristin Brinker und Marc Vallendar (beide AfD) mehr zu den Auswirkungen des Cannabiskonsums in Berlin wissen. Unter anderem wollten die beiden erfahren, wie viele Menschen in den vergangenen zehn Jahren wegen Cannabis im Krankenhaus behandelt werden mussten. Die Zahlen aus Antwort der Senatsverwaltung für Wissenschaft, Gesundheit, Pflege und Gleichstellung vom August 2022 wurden nicht nur von der AfD, sondern in zahlreichen Medienberichten als bedenklich und hoch bewertet. Angesichts der vielen Kiffer in Berliner Krankenhäusern argwöhnt neben der AfD auch die CDU, ob man bei durchschnittlich mehr als 1000 behandelten Notfällen pro Jahr Cannabis wirklich lockerer handhaben sollte?
Blöd daran ist nur, dass der ICD-10 F12 Code, auf die sich Staatssekretärin Naghipour in ihrer Antwort bezieht, neben den Cannabis-Notfällen auch die Krankenhausaufenthalte aufgrund Neuer Psychoaktiver Substanzen (NPS) widerspiegelt. Zu diesen Substanzen werden nicht nur gesundheitliche Probleme beim Konsum von mit Chemie versetzten Kräutermischungen gezählt, auch Badesalze und ähnlichen Pülverchen schlugen bis Oktober 2022 in dieser Statistik nieder. Viele davon sind nicht einmal künstliche Cannabinoide, sondern übelste Speed, Koks oder Ecstasy-artige Derivate – also Kristalle oder bunte Pillen. Die sind allesamt weitaus gefährlicher als Cannabis und mitunter sogar tödlich. Die WHO hat den Fehler mittlerweile bemerkt und im Oktober 2022 mit Einführung des ICD 11-Code reagiert. Die neue Einteilung erfasst NPS getrennt von Cannabis. Die wenig kompetente Antwort des Berliner Senats ist Wasser auf die Mühlräder einer AfD, die eine menschenwürdige Drogenpolitik grundsätzlich ablehnt. Richtig wäre gewesen:
„Da der ICD 10 F12 Code nicht zwischen dem Konsum von Neuen Psychoaktiven Substanzen und Cannabis unterscheidet, kann der Berliner Senat hierzu keine genaue Aussage treffen. Für die fehlende Unterscheidung zwischen natürlichen und synthetischen Cannabinoiden ist die WHO verantwortlich. In der neuen Auflage des ICD-11 Codes, der am 1.10.2022 in Kraft tritt, unterscheidet die WHO zwischen diesen o. a. Substanzen. Dort werden synthetische Cannabinoide gesondert unter dem Code ICD 11-6C42 aufgeführt. Die WHO hat diese Kriterien geändert, um Cannabis und Neue Psychoaktive Substanzen statistisch getrennt voneinander zu erfassen. Deshalb wird eine genaue Evaluierung der von Ihnen angefragten Daten frühestens ab 2024 möglich sein.“
Da hätte selbst die AfD dazulernen können. Aber anscheinend scheint dieser Lapsus den Verantwortlichen im Berliner Gesundheitssenat entgangen zu sein. Im Folgemonat wurde wieder dasselbe, fragwürdige Zahlenwerk in einer Antwort auf eine AfD Anfrage zu Cannabis zitiert.
Aus Fehlern lernen? Nicht mit uns!
Denn als die AfD am 16.8.22 vom Senat unter anderem wissen wollte, wie es denn mit der Verbreitung NPS in Berlin aussähe, konnte der Senat einen Anstieg der gefundenen Mengen bestätigen – aber keine Angaben zu gesundheitlichen Folgen, Klinikaufenthalten oder Überdosierungen geben. Kein Wunder, denn Vergiftungen mit NPS werden statistisch nicht als solche erfasst, sondern gelten als Cannabis-Überdosierungen und wurden von den Gesundheitsexperten des Senats erst kurz zuvor als solche abgeheftet. Dieser Umstand wird, genauso wenig wie die Neufassung des ICD-Codes, auch in der Antwort vom 30.8.22 an die AfD wieder mit keinem Wort erwähnt.
Auf Nachfrage, weshalb man die AfD in keiner der beiden sehr ausführlichen Antworten auf die fehlende Unterscheidung der WHO zwischen Cannabis und NPS hingewiesen habe, heißt es aus der Pressestelle des Berliner Senats:
„Aktuell werden im ICD-10 Cannabiskonsum und der Konsum künstlicher Cannabinoide nicht getrennt voneinander erfasst; insofern ist es auch nicht möglich, die Fälle auszuweisen, die auf den Konsum künstlicher Cannabinoide zurückzuführen sind. Die Aussagen der Kliniken beziehen sich auf dieselbe Klassifikation; insofern ist auch hier eine getrennte Auswertung nicht möglich. Die Frage, ob es einen Zusammenhang zwischen den gestiegenen Funden von NPS und den gestiegenen Klinik-Aufenthalten wegen des Konsums von NPS gibt, kann derzeit nicht valide beantwortet werden.“
Das ist zwar keine direkte Antwort auf die Presseanfrage, aber immerhin hat der Senat die Aussage so erst einmal grundsätzlich berichtigt – ohne jedoch den offensichtlichen Lapsus einzugestehen. Auch die Antworten auf die Kleine Anfragen der AfD wurden bis heute nicht ergänzt oder abgeändert. So werden Cannabis und die neuen Chemo-Drogen wegen eines problematisches und mittlerweile ungültigen Codes auch vom Cannabis freundlichen Berliner Senat bis heute in einen Topf geworfen. Die Neufassung des ICD-Codes hingegen muss an den regierenden Gesundheitsexperten in Berlin unbemerkt vorbeigegangen sein.
Die AfD in NRW reagiert prompt
Die inkompetente Antwort des Senats hat die AfD Nordrhein-Westfalen dann auch gleich veranlasst, die schwarz-grüne Regierung am 22.9.22 nicht minder inkompetent nach „synthetische(n) Drogen mit cannabisähnlicher Wirkung, sogenannte(n) Cannabinoide“ zu fragen. Was die AfD, wohl auch aufgrund der fahrlässigen Antwort aus Berlin, noch nicht zu wissen scheint: Die Wirkung gefährlicher synthetischer Cannabinoide hat mit Cannabis so viel gemein wie die eines Knollenblätterpilzes mit der eines Champignons.
So hat es der Senat in Berlin aufgrund drogenpolitischer Inkompetenz vermocht, die vorurteilsbehaftete, ablehnende Haltung der rechtsaußen Partei mithilfe falscher Fakten zu Cannabis und Designer-Drogen gleich zweimal zu stärken. Noch peinlicher an der Sache ist, dass die WHO den Handlungsbedarf längst selbst erkannt hatte und die Fehler des alten und Neufassung des neuen ICD Codes zu Cannabis und NPS seit Jahren auch für Berliner Staatssekretär*innen öffentlich einsehbar sind.
Quellen und weiterführende Links
pardok.parlament-berlin.de/pdf