Seit 10. März dieses Jahres müssen die Gesetzlichen Krankenkassen in Deutschland die Kosten für eine vom Arzt verordnete Behandlung mit Cannabis übernehmen: nach langen Jahren Streit ein bemerkenswertes Ergebnis. Die Entkriminalisierung von Cannabis als Medizin ist zwar auch in Deutschland, wie in einigen anderen Ländern schon seit Jahren durchgesetzt, dass ein Sozialversicherungssystem die Kosten der Behandlung vollständig übernimmt, ist aber eine Besonderheit – vor allem, weil nicht nur Arzneimittel auf Basis von Cannabis, sondern auch die standardisiert erzeugten Cannabisblüten selbst finanziert werden müssen.
Die Auseinandersetzung um Cannabis als Medizin geht in die 2. Runde
Der Wortlaut der gesetzlichen Vorschrift ist eindeutig: „Versicherte mit schwerwiegenden Erkrankungen haben Anspruch auf Versorgung mit Cannabis in Form von getrockneten Blüten oder Extrakten in standardisierter Qualität und auf Versorgung mit Arzneimitteln mit den Wirkstoffen Dronabinol oder Nabilon.“
Getrocknete Blüten in standardisierter Qualität werden vom Gesetz also gleich behandelt wie Extrakte oder Fertigarzneimittel. In welcher Form Cannabis zum Einsatz bei Patientinnen oder Patienten kommt, ist damit Sache der verordnenden Ärzte, nicht Sache der Krankenkasse. Zwar bedarf die Leistung bei der ersten Verordnung der Genehmigung der Krankenkasse, diese darf aber, so sieht es das Gesetz ausdrücklich vor, „nur in begründeten Ausnahmefällen“ die Genehmigung ablehnen. Die Regel ist also, dass sie die ärztliche Verordnung genehmigen muss. Außerdem hat die Krankenkasse gesetzlich bestimmte Fristen streng einhalten. Wenn Cannabis von einem Patienten benötigt wird, der spezialisierte ambulante Palliativversorgung erhält, hat die Krankenkasse innerhalb von drei Tagen zu entscheiden. Im Regelfall hat sie dafür drei Wochen Zeit oder, wenn sie den MDK um eine Stellungnahme bittet, fünf Wochen. Werden diese Fristen ohne guten Grund, der den Versicherten auch mitgeteilt werden muss, überschritten, gilt die Leistung als genehmigt und die Patienten.
Es war noch nach der Sachverständigenanhörung im Deutschen Bundestag, in der die Krankenkassen nachdrücklich gegen jede Möglichkeit, getrocknete Cannabisblüten zu therapeutischen Zwecken einsetzen zu können, Stellung bezogen hatten, mit Bedacht patientenfreundlich ausgestaltet worden, um zu verhindern, dass die Krankenkassen und der MDK die Regelung in der Praxis unterlaufen. Nur so meinte der Gesetzgeber zu Recht, verhindern zu können, dass immer mehr Patienten Cannabis für medizinische Zwecke selbst anbauen dürfen, wie es das Bundesverwaltungsgericht im Frühjahr 2016 in einer Einzelfallentscheidung für einen Patienten genehmigt hatte.
Das Bundesverwaltungsgericht hatte in der Entscheidung einem Patienten, der sich seit 16 Jahren im Rechtsstreit mit den Bundesbehörden und Staatsanwaltschaften befand, ausgehend von den gerichtlichen Feststellungen, zuerkannt, dass er auf die Behandlung mit Cannabisblüten zur Linderung seiner Beschwerden angewiesen ist und dass die erforderliche Sicherheit des Anbaus, sowie die Kontrolle des Betäubungsmittelverkehrs geleistet sei. Daraus hatte es dann geschlossen, dass es unverhältnismäßig wäre, ihm die Selbsthilfe durch Eigenanbau zu verwehren (BVerwG vom 6. April 2016, 3 C 10/14).
Es ist wichtig, sich diesen Hintergrund des neuen Gesetzes zu vergegenwärtigen, das sicherstellen soll, dass Patienten wie dieser ihre erforderliche Medizin nicht selbst durch Eigenanbau herstellen müssen, sondern von den Krankenkassen mithilfe der neu eingerichteten Cannabisagentur als Sachleistung beanspruchen können. Denn die Krankenkassen signalisieren derzeit deutlich, dass sie beabsichtigen, den Rechtsanspruch ihrer Versicherten ins Leere laufen zu lassen.
Das ist an sich nichts Neues: Auch in der Vergangenheit haben die Krankenkassen bei den ohnehin schon seltenen Gelegenheiten, die Versicherten neue oder bessere Leistungsansprüche sichern sollten, gegengesteuert. Ein besonders dramatisches Beispiel ist der zum 1. April 2007 in Kraft getretene Anspruch auf spezialisierte ambulante Palliativversorgung, der schwerstkranken Menschen kurz vor der oder in der Sterbephase bei einem besonderen Bedarf helfen sollte. Der Gesetzgeber war hier von einem anfänglichen Volumen von 390 Millionen Euro ausgegangen, der wachsen sollte, wenn die Versorgungsstrukturen in vollem Umfang ausgebaut sein würden. Die Krankenkassen ließen sich mit den Vertragsverhandlungen Zeit und schafften es so, bis heute deutlich unter dem angepeilten Betrag für die erste Phase zu bleiben: ein kostenbewusstes Vorgehen, dessen Preis die Kranken zahlen. Im aktuellsten vollständig erfassten Jahr, 2015, sind lediglich 267 Millionen Euro geflossen. Immer noch, zehn Jahre nach Inkrafttreten des gesetzlichen Anspruches, gibt es Regionen, die nahezu unversorgt sind. Immerhin: Die Krankenkassen opponierten damals nicht offen gegen den Versorgungsanspruch.
Das geschieht aber heute. Trotz der eindeutigen gesetzlichen Vorgabe beharren sie darauf, dass insbesondere die Versorgung mit Cannabisblüten nicht sichergestellt werden soll: „Für den dauer- und regelhaften Leistungsanspruch fehlt der Nachweis der Wirksamkeit.“ Auf einer Tagung der „Sozialmedizinischen Expertengruppe 6“ des MDK, die für die Arzneimittelversorgung zuständig ist, und damit auch für Cannabis als Medizin, wurde am 16. März das Thema „Medizinisches Cannabis in der GKV“ erörtert. Dabei wurde von Geschäftsführer des MDK Westfalen-Lippe, der hier federführend war, erläutert, dass „trotz der vielen Änderungen im Gesetz, die auch noch kurzfristig eingepflegt wurden“, die MDK-Gemeinschaft bereits vorläufige Hinweise durch die Fachexperten der Sozialmedizinischen Expertengruppe 6 „Arzneimittelversorgung“ (SEG 6) erstellt habe, sodass eine fach- und sachgerechte Begutachtung seit dem ersten Tag des Inkrafttretens im MDK stattfinden könne. Eine der entscheidenden Änderung, die noch kurzfristig von den Abgeordneten ins Gesetz geschrieben wurde, war der Auftrag an die GKV, die Verordnung von Cannabis „nur in begründeten Ausnahmefällen“ nicht zu genehmigen.
Wenn der MDK seine bislang nicht veröffentlichten „Hinweise“ zur Genehmigung ohne Berücksichtigung dieser Änderung in Umlauf gebracht hat, dürfte es hier zu scharfen Konflikten kommen, die gegebenenfalls in einstweiligen Anordnungsverfahren vor den Sozialgerichten ausgetragen werden müssen. Auch wenn die Sozialgerichte oftmals in Auseinandersetzungen zwischen Versicherten und Krankenkassen eher kassenfreundlich entscheiden, dürfte hier der Gesetzeswortlaut eine gute Basis dafür bieten, dass Patienten ihren Anspruch durchsetzen können. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass sie überhaupt eine Verordnung durch einen Kassenarzt erhalten: Auch in dieser Frage zeichnen sich allerdings Probleme ab.
Denn auch die Ärzteschaft hat sich im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens überwiegend kritisch zu der Möglichkeit, getrocknete Cannabisblüten zu verordnen geäußert. Aufgrund der schlechten Studienlage und der wegen der strikten Prohibition in der Vergangenheit geringen Erfahrungen von Kassenärzten mit Cannabis sind hier vielfach starke Vorbehalte zu erwarten. Das entspricht auch den Erfahrungen, die Patienten seit Inkrafttreten des Gesetzes gemacht haben. Erschwerend kommt hinzu, dass der Präsident der Bundesapothekerkammer nachdrücklich vertreten hat, dass Cannabisblüten Ausgangsstoff für eine Rezeptur sind, aus dem Apotheker erst ein Arzneimittel herstellen und nicht selbst schon ein Fertigarzneimittel. Die Konsequenz ist 5 g Cannabisblüten, die als Fertigarzneimittel behandelt 68,61 € kosten, können als Rezepturarzneimittel bis zu 113,31 € Kosten – das Einzige, was der Apotheker dafür tun muss, ist die Cannabisblüten zu zermahlen, zu sieben und zu portionieren.
Begründet wird die Auffassung, dass der Apotheker die Cannabisblüten portionieren müsse, mit der erforderlichen Therapiesicherheit, dabei hat sich in der Vergangenheit durch die Erfahrungen mit dem Eigenanbau gezeigt, dass sehr viele Patienten Cannabis nicht nur selbst anbauen, sondern selbstverständlich auch selbst portionieren können. Bei einem Bedarf, der bei nicht wenigen Patienten bei 100 Gramm (oder sogar mehr) im Monat liegen kann, ist die Preisdifferenz beachtlich: 1372 Euro für Cannabisblüten als eine Art Fertigarzneimittel zu 2266 EUR monatlich für Cannabisblüten als Ausgangsstoff für ein Rezepturarzneimittel. Diese erhöhten Kosten kommen aber nicht nur die Krankenkassen teuer zu stehen, sie belasten vor allem die Budgets der Kassenärzte erheblich und verringern damit deren ohnehin nicht allzu große Begeisterung für die neue Verordnungsmöglichkeit.
Auch das kann für die Zukunft der medizinischen Anwendung von Cannabis nachteilige Folgen haben: Das neue Gesetz sieht vor, dass das BfArM zum Einsatz der verschriebenen Cannabismedikamente bis zum 31. März 2022 eine Begleiterhebung durchführt und zu einem Studienbericht zusammenfasst. Auf der Grundlage der dabei erhobenen Daten soll dann der Gemeinsame Bundesausschuss Richtlinien für die Leistungsgewährung von Cannabisblüten, – Extrakten und Dronabinol- und nabilonhaltigen Medikamenten verabschieden. Stimmberechtigte Mitglieder des G-BA sind Vertreter des GKV-Spitzenverbandes, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassenärztlichen Bundesvereinigung und des Kassenzahnärztlichen Bundesvereinigung (5:2:2:1). Die Patienten haben nur ein Mitberatungsrecht. Entwickeln sich die Verhältnisse so, wie es sich derzeit abzeichnet, könnte der G-BA den Einsatz THC-haltiger Medikamente, für die es eine gewisse Lobby in der Ärzteschaft und der Pharmaindustrie gibt, in eingeschränktem Maße empfehlen – für die Verschreibung von Cannabisblüten könnte es dagegen das totale oder zumindest fast vollständige Aus ergeben, wenn sich der derzeit so nachdrücklich bestrittene Zusatznutzen – möglicherweise auch wegen zu geringer Verordnungszahlen – nicht nachweisen ließe. Die Auseinandersetzung um Cannabis als Medizin ist also noch längst nicht beendet, sie geht möglicherweise gerade in eine schwierigere, fünf Jahre währende zweite Phase. Dabei könnte sich erweisen, dass die Hersteller von THC-haltigen Medikamenten und die Patienten, die gute Erfahrungen mit der Einnahme getrockneter Blüten gemacht haben, in unterschiedliche Richtungen gehen. Es geht in der Auseinandersetzung auch um den Konflikt zwischen einer Medizin, die auch das Erfahrungswissen ihrer Patienten stark berücksichtig, und einer Medizin, die vornehmlich auf statistisch nachweisbare Evidenzen setzt.