Fährt man auf der Brennerautobahn in Richtung Süden, gerät kurz hinter der Ausfahrt Bozen-Süd ein Gebäude, einem Bergkristall nachempfunden, ins Blickfeld. Die Architektur des Firmensitzes der Bergsteigermarke Salewa ist der Einzigartigkeit der Dolomiten nachempfunden.
Was man von der Autobahn aus nicht sieht: Die großzügige Kletterhalle, genannt Cube, das Restaurant Bivac, spezialisiert auf regionale Küche, im Sommer der Gemüsegarten und seit Sommer 2018 eine Anbaufläche für Hanf. Seit drei Jahren baut das Bergsportunternehmen in Bozen und in Vintl, eine Autostunde von Bozen entfernt, Hanf an, um das Wachstum und die Verarbeitung der Industriepflanze besser zu verstehen. Bis zu vier Meter hoch sprießt die genügsame Pflanze, die wenig Wasser braucht, erstaunlich resistent gegen Schädlinge ist und zudem so rasch wächst, dass das Unkraut zu ihren Füßen keine Chance auf Ausbreitung hat. Das Potenzial der Pflanze für die Industrie schätzt das Unternehmen als sehr hoch ein. Insbesondere da Hanf nachhaltiges regionales Wirtschaften in Südtirol voranbringen könnte.
Ziel des Familienunternehmens ist, „innerhalb der nächsten drei bis fünf Jahre eine leistungsstarke Hanfindustrie in der Heimat Südtirol und auch über die Grenzen hinaus zu initiieren.“ So sagt es Christine Ladstätter, Special Product und Innovation Managerin. Seit fast dreißig Jahren im Unternehmen, steckt die Südtirolerin Know-how und persönliches Engagement in „den Traum vom Hanf in Südtirol“.
Hanf als heimische Textilfaser für Sportbekleidung
Als Textilfaser für Sportbekleidung überzeugt die Pflanze durch ihre natürlichen Eigenschaften: Fasern mit Hanf regulieren Temperatur sowie Feuchtigkeit, wirken atmungsaktiv, geruchshemmend und trocknen sehr schnell. Darüber hinaus ist Hanf sehr strapazierfähig und schmutzresistent. Alles Eigenschaften, auf die bergsportinteressierte Kunden Wert legen. Wenn es um Equipment geht, schätzen Kletterer natürliche Materialien, die schützen und gleichzeitig Freiheit schenken.
Gefragt sind Hosen und Shirts, die sich ihren Bewegungen spielerisch anpassen und in denen sie sich schlicht wohlfühlen. Die herausragenden Eigenschaften der Pflanze erklären, warum Hanf über Jahrtausende als eine der wichtigsten Fasern weltweit genutzt wurde – gestoppt durch den Siegeszug der Baumwolle, später durch synthetische Fasern und durch die Hanf-Anbauverbote, die nicht zwischen Nutzpflanze und Rauschmittellieferant unterschieden.
Hanf hat in den Alpen eine starke Tradition und Italien war früher der größte Produzent von hochwertigem Industriehanf. Mit der ersten Hanfkollektion, die seit April verfügbar ist, forciert das Unternehmen eine langfristige, lokale Kreislaufwirtschaft im Umgang mit natürlichen Ressourcen. Für die 13-teilige Kollektion, zugeschnitten auf die Bedürfnisse von Bergsportlern, gewinnt die Marke die Fasern in China, denn für ein regionales Sourcing sind die optimalen Bedingungen noch nicht geschaffen.
„Um einen Anbau in den Alpen zu realisieren, sind wir im Gespräch mit den Landwirtschaftsreferenten in Südtirol und Tirol sowie dem landwirtschaftlichen Forschungsinstitut Laimburg“ erklärt Ladstätter. Zusätzlich interagiert das Projektteam mit Unternehmen und Instituten, die Interesse daran haben, Hanf als Pflanze und Rohstoffquelle zu nutzen und zu erforschen. Daran beteiligen sich auch die Bauernverbände in Südtirol und Tirol, für die sich Hanf als Zwischenfrucht auch im Winter lohnt, denn die tiefen Wurzeln werten den Boden auf. Ein weiteres Plus: Hanfpflanzen binden klimaschädliches Kohlendioxid und das gibt Subventionen der EU.
Weitere Interessenten finden sich in der Bauindustrie: So fertigt der Vinschgauer Baustoffhersteller Schönthaler aus den Stängeln ökologische Ziegel, die thermisch isolieren und die Luftfeuchtigkeit regulieren – und auf einem Hektar wächst laut Salewa in nur fünf Monaten Biomasse für die Steine eines kleinen Einfamilienhauses.
Dass aus Träumen Realität werden kann, zeigen andere Projekte, die Christine Ladstätter begleitet. Eines davon ist TirolWool. Noch vor wenigen Jahren wurde die Wolle der Tiroler Bergschafe und Südtiroler Brillenschafe gegen Gebühr entsorgt. Als Nebenprodukt der Fleisch- und Milchproduktion hatte sie keinen Wert. Heute liefern die Kleinbauern die Wolle für einen fairen Preis an Salewa. Im Unternehmen werden daraus Wattierungen für Funktionsjacken gefertigt.
Auf dem Weg in Richtung Süden lohnt es sich also mehrfach, an der Ausfahrt Bozen-Süd den Blinker zu setzen. Wenige Minuten von der Ausfahrt entfernt, findet sich eine kleine Oase, die genau das bereit hält, was man von einer Auszeit erwartet: regionale Mahlzeiten, exzellenten Kaffee, bei Bedarf frisches Obst und Gemüse für die Reise, fordernde Kletterrouten und Boulderprobleme für die aktive Pause und natürlich der Blick auf das Hanffeld.
In einigen Jahren könnte es auf den Anbauflächen Südtirols mehr davon geben. Das Interesse ist groß. Es muss nur noch ein bisschen mehr wachsen.
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