Nicht nur Morbus-Crohn- oder Krebspatienten könnten in naher Zukunft vom medizinischen Cannabiskonsum profitieren, sondern auch Demenzkranke. Das haben Wissenschaftler der Uniklinik Bonn in einer Studie untersucht. Wie die Forscher herausfanden, könnte der Konsum von geringen Mengen Cannabis Demenzpatienten helfen. Darauf lassen die Ergebnisse der Studie schließen, die besagen, dass die Denkleistung von alten Mäusen durch die Verabreichung von THC verbessert wurde.
Das veröffentlichte das Forscherteam, um die Neurowissenschaftler Andras Bilkai Gorzo und Andreas Zimmer im Magazin „Nature Medicine“ (Bilkei-Gorzo, Zimmer et al. 2017). Am Menschen selbst wurde noch nicht getestet. Zimmer gibt sich aber zuversichtlich, dass sich die Ergebnisse auch auf Demenzkranke Personen übertragen lassen könnten und Cannabis deshalb zur Verbesserung der Denkleistung beitragen könnte. So erklärt der Wissenschaftler die Wirkung von Marihuana, welches medizinisch angewendet wird, wie folgt: „In diesem Zusammenhang wissen wir, dass praktisch alles, was in der Maus funktioniert, auch im Menschen funktioniert. Von daher bin ich vorsichtig optimistisch, dass die Ergebnisse vielleicht übertragbar sind.“
Die Idee
Das Forscherteam untersucht schon seit 15 Jahren einen Teil des Nervensystems, das den Prozess des Älterwerdens beeinflusst. Dessen Aktivität nehme mit zunehmendem Alter ab, erläutert Zimmer, somit stehe beides in einem gewissen Zusammenhang. Die Rede ist vom sogenannten Endocannabinoidsystem. Hier gibt es bestimmte Rezeptoren, die – wie es der Name schon nahe legt – auch mit Cannabis reagieren. Nun ist es so, dass dieser Teil des Nervensystems bei jungen Mäusen eher überaktiv ist, im Alter büßt es aber, wie oben bereits erwähnt, an Aktivität ein.
Die Frage, die das Bonner Forscherteam auf den Grund gehen wollte, lautete folglich: Kann eine geringe Menge THC das System wieder in den Gang bringen?
Das Experiment
Also wurde an den Nagern in drei verschiedenen Altersphasen getestet, und das über einen Zeitraum von 28 Tagen. Die eine Gruppe bestand aus jungen Mäusen im Alter von zwei Monaten, in der zweiten Gruppe waren die Tiere in einem reifen Stadium von zwölf Monaten und die dritte Gruppe bestand aus Mäusen in einem gesetzten Alter von 18 Monaten. Jeder dieser drei Gruppen bekam von den Wissenschaftlern geringe Mengen THC verabreicht, die Kontrollgruppe bekam stattdessen ein Placebo.
Die Tiere mussten nun verschiedene Versuche über sich ergehen lassen, in denen das Erinnerungsvermögen und Lernverhalten getestet und mit den Ergebnissen der Kontrollgruppe verglichen wurde. Zum Beispiel mussten die Versuchstiere verschiedenfarbige Legosteine zuordnen und die Wissenschaftler stoppten die Zeit, die die Mäuse dafür benötigten. Bei einem anderen Versuch ging es beispielsweise darum, dass die Mäuse einen Partner wiedererkennen sollten. Die Nager mussten also im Allgemeinen Plattformen finden und Veränderungen in der Umgebung wahrnehmen.
Die Ergebnisse
Dabei stellte sich heraus, dass die zwölf und 18 Monate alten Mäuse bei den verschiedenen Tests fast genauso gut abgeschnitten haben wie die zwei Monate alten Mäuse der Kontrollgruppe. „In allen diesen Tests konnten wir eine deutliche Verbesserung sehen bei alten Tieren. Die Verbesserung war so dramatisch, dass wir eigentlich das Lernverhalten von alten Tieren nicht mehr unterscheiden konnten von denen der jungen Tiere“, erläutert Zimmer in einem Gespräch mit „Deutschlandfunk“. Diesen Befund nahm das Team zum Anlass, weiter zu forschen. Was sind die molekularen Mechanismen, die dahinter stecken, fragten sich die Wissenschaftler mit dem Hintergrundwissen, dass sich Gene im Alterungsprozess verändern. Daraufhin haben die Wissenschaftler laut Zimmer erkannt, dass die Genaktivität behandelter, alter Tiere „sehr, sehr ähnlich“ zu der Genaktivität junger Tiere sei. „Also THC stellt auch im Prinzip Genaktivität von jungen Tieren wieder her“, so Zimmer weiter.
Auch auf biologischer Ebene stellten die Forscher Unterschiede zwischen alten und jungen Tieren fest. So zeigten sich im Hippocampus der behandelten, alten Mäuse ähnliche genetische Muster wie bei den unbehandelten, jungen Mäusen. Ebenso wurden die bei alten Tieren reduzierten Synapsen wieder zu größerer Aktivität angeregt. Eine Behandlung mit THC bewirkte also eine Verjüngung des Gehirns der Nagetiere. „In vielen, vielen Aspekten ist das Gehirn von alten Tieren nach der THC-Behandlung eigentlich dem Gehirn von jüngeren Tieren ähnlich. Insofern könnte man sagen, dass die Behandlung viele von diesen Alterungsprozessen fast umgekehrt hat“, betont Zimmer.
Lern- und Gedächtnisleistung sind im Zuge der Verabreichung von Cannabinoiden also verbessert worden. Bei den jüngeren, behandelten Mäusen sei laut Zimmer jedoch das Gegenteil eingetreten, ihre Leistungen verschlechterten sich und glichen sich im Alter, unbehandelter Mäuse an. Dies könnte ein Hinweis darauf sein, warum Marihuana jungen Konsumenten eher schadet.
„Wir wollen keine Mäuse heilen, wir wollen Menschen heilen“
Der englische Psychiater Dr. Michael Bloomfield vom Universitiy College London bezeichnete die Studie gegenüber der Zeitung „Independent“ als „gut durchgeführt“ und „spannend“. Sie eröffne durch die Untersuchung des Endocannabinoidsystems, neue Möglichkeiten in der Forschung. Dadurch seien die Wissenschaftler in der Lage, Krankheitsbilder wie Demenz mit einzubeziehen, die somit besser untersucht werden könnten. Allerdings sei das Verschreiben von Cannabis als Medikament bei Patienten mit Alzheimer noch in weiter Ferne, da weitere Forschungen notwendig seien, so Bloomfield weiter.
Genau das hat sich das Forscherteam aus Bonn für die Zukunft auf die Fahnen geschrieben. „Was wir gemacht haben, ist experimentell. Wir haben versucht, diese Aktivität zu normalisieren, indem wir ganz niedrige Dosen an alte Tiere verabreicht haben“, erklärt Zimmer. Das ist den Wissenschaftlern zwar gelungen, aber nicht genug. Jetzt geht es darum, ob sich die Ergebnisse in einer Pilotstudie am Menschen auch auf ihn übertragen lassen.
Denn festzuhalten bleibt: Cannabinoide können laut der Studie an der Bonner Uniklinik einen positiven Einfluss auf die kognitive Leistung haben – zumindest bei älteren Mäusen ist das der Fall. Doch damit gibt sich Zimmer nicht zufrieden und macht unmissverständlich klar: „Wir wollen keine Mäuse heilen, wir wollen Menschen heilen.“ Die geplante Pilotstudie richte sich an Patientengruppen, die eine leichte Altersdemenz oder eine beginnende Alzheimer-Demenz haben, informiert Zimmer.
Pilotstudie schon nächstes Jahr?
Bei einer möglichen Folgestudie kann das Forscherteam sogar auf Gelder vom Forschungsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen hoffen. Sollten die Bonner Wissenschaftler tatsächlich eine finanzielle Unterstützung erhalten, steht einer Studie mit dem Mensch als Versuchstier eigentlich nichts mehr im Wege. So zitiert „ZEIT ONLINE“ Studienleiter Bilkei-Gorzo wie folgt: „Wir könnten binnen eines Jahres mit der Suche nach Probanden beginnen.“ Dass die Ergebnisse auch beim Menschen eintreffen könnten, dazu gibt es bereits Hinweise aus Israel. Hier wurde in einem Altersheim Cannabis gegen Appetitlosigkeit und Schlafstörungen getestet. „Viele darunter waren daraufhin auch geistig wesentlich reger“, betont Zimmer. Gute Aussichten also für Demenzpatienten.