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Den Ausdruck „Tourette-Syndrom“ verbindet man meist mit dem zwanghaften Ausstoßen unflätiger oder beleidigender Ausdrücke in gänzlich unpassenden Situationen. Was in Filmen oder Büchern Heiterkeit bei Zuschauern oder Lesern auslöst, ist für die Betroffenen oft alles andere als lustig. Viele klagen über soziale Ausgrenzung, die unter Umständen zu schweren psychischen Problemen führen kann.
Da die Ursachen des Tourette-Syndroms bis heute nicht endgültig erforscht sind, gibt es auch keine Möglichkeit der Heilung. Alle zur Verfügung stehenden Therapien beschränken sich darauf, die Symptome zu lindern, um den Betroffenen ein halbwegs normales Leben zu ermöglichen. Dabei schneidet der Einsatz von Cannabis, was Wirksamkeit und insbesondere Nebenwirkungen betrifft, wesentlich besser ab als andere therapeutische Ansätze.
Was ist das Tourette-Syndrom?
Das Tourette-Syndrom ist eine angeborene Erkrankung des Nervensystems. In Deutschland leiden 0,3 bis 0,9 % der Kinder unter dieser Erkrankung, wobei Jungen dreimal so häufig betroffen sind wie Mädchen. Oft schwächt sich das Tourette-Syndrom während oder nach der Pubertät deutlich ab, daher ist die Quote bei Erwachsenen deutlich niedriger.
Erstmals wissenschaftlich beschrieben wurde die Krankheit von Gilles de la Tourette, einem französischen Neurologen und Psychiater des 19. Jahrhunderts. Das Tourette-Syndrom äußert sich in unwillkürlichen, zwanghaften Bewegungen oder motorischen Tics – von Französisch „Tic“ = „nervöses Zucken“ –, die oft sehr heftig ausfallen. Weitere Symptome sind spontane Laut-Äußerungen, in der Fachsprache als vokale Tics bezeichnet. Solche Tics treten unterschiedlich häufig auf, manchmal fortlaufend, manchmal mehrmals am Tag oder auch nur in Situationen, die von dem Betroffenen als besonders belastend empfunden werden.
Sowohl bei motorischen als auch bei vokalen Tics unterscheidet man einfache und komplexe Formen. Einfache Bewegungs-Tics sind zum Beispiel unkontrolliertes Augenblinzeln, Naserümpfen oder Grimassenschneiden. Von komplexen motorischen Tics spricht man, wenn Betroffene zwanghaft das Verhalten anderer nachahmen, etwa indem sie ihr Mienenspiel imitieren.
Unter einfachen vokalen Tics versteht man das unbewusste Ausstoßen sinnloser Laute oder das unwillkürliche Nachahmen von Tierlauten. Komplexe vokale Tics münden oft in Koprolalie, laut Definition im Duden die „krankhafte Neigung zum Aussprechen unanständiger, obszöner Wörter (meist aus dem analen Bereich)“. Was die allermeisten spontan mit dem Begriff „Tourette-Syndrom“ verbinden, ist also nur eine mögliche Ausdrucksform dieser Nervenerkrankung neben anderen.
Die Ursachen des Tourette-Syndroms
Die medizinische Forschung ist bisher zu keinem gültigen Urteil gekommen, was die Ursachen des Tourette-Syndroms betrifft. So gibt es verschiedene Ansätze, diese Erkrankung zu erklären, von denen allerdings keiner als wirklich wissenschaftlich bestätigt gelten kann. Als mögliche Ursachen gelten:
- Neurobiologische Störungen
- Genetische Veränderungen
- Abweichungen im Immunsystem
Der neurobiologische Erklärungsansatz ist dabei noch der am gründlichsten erforschte. Danach liegt das Zentrum der Störungen in den Basalganglien, auch Nuclei basales genannt, einem Teil des Großhirns, das unmittelbar unter der Großhirnrinde liegt und die Motorik des Körpers steuert. Die Forschung geht davon aus, dass das Auftreten des Tourette-Syndroms mit einem gestörten Dopamin-System zusammenhängt. Dopamin ist ein überwiegend erregend wirkender Botenstoff des Nervensystems, auch Neurotransmitter genannt. Wird zu viel Dopamin gebildet und in das Nervensystem eingespeist, kommt es zu Impulsen, sei es motorisch oder vokal, die nicht mehr kontrolliert werden können.
Was den genetischen Erklärungsansatz betrifft, so ist zwar nachgewiesen, dass Veränderungen des Erbguts bei der Entstehung neuropsychiatrischer Erkrankungen allgemein und des Tourette-Syndroms im Speziellen eine wichtige Rolle spielen. Welche Veränderungen genau hier ausschlaggebend sind, ist allerdings ist bisher nicht erforscht.
Ähnliches gilt für den Zusammenhang des Tourette-Syndroms mit Fehlfunktionen des Immunsystems. So geht die Forschung zwar davon aus, dass es einen Zusammenhang von Abweichungen im Immunsystem mit Störungen in der Gehirnentwicklung gibt, Näheres aber kann bisher nur gemutmaßt werden.
Verschiedene Therapieansätze
Wie oben bereits erwähnt, beschränkt sich die Behandlung des Tourette-Syndroms darauf, die Symptome zu lindern und dadurch den Betroffenen das Leben mit dieser Krankheit zu erleichtern.
Dabei gibt es verschiedene von den Krankenkassen anerkannte Therapieansätze:
- medikamentös
- psychotherapeutisch
- chirurgisch
Die Behandlung mit Medikamenten konzentriert sich auf den Einsatz von Neuroleptika, das sind Psychopharmaka mit dämpfender und antipsychotischer Wirkung. Der Einsatz solcher Neuroleptika kann bei schweren Fällen immerhin zu einer Minderung der Tics um bis zu 50 % führen. Am häufigsten eingesetzt wird dabei Aripiprazol, ein Mittel, das ursprünglich zur Behandlung von Schizophrenie entwickelt wurde. Andere häufig verwendete Medikamente sind z. B. Tiaprid, Sulpirid oder Risperidon.
Alle diese Medikamente funktionieren als Dopamin-Rezeptor-Antagonisten, das heißt, sie hemmen den Dopamin-Stoffwechsel, um so einer Übererregung des Nervensystems entgegenzuwirken. Doch der Preis für diese Erregungsdämpfung ist hoch, denn all diese Mittel haben erhebliche Nebenwirkungen. Offensichtlich bringt der medikamentöse Eingriff in das Dopamin-System, das ein Teil des Zentralnervensystems ist, das innere Gleichgewicht des Körpers massiv durcheinander.
So sind zahlreiche Nebenwirkungen möglich, die sich auf den ersten Blick zu widersprechen scheinen, letztlich aber alle auf eine gestörte Homöostase hinweisen. Solche Nebenwirkungen können Appetitsteigerung oder Verlust sein, Schlaflosigkeit oder ein gesteigertes Schlafbedürfnis, aber auch Müdigkeit und Antriebsminderung oder, im Gegensatz dazu, gesteigerte Unruhe. Oft kommt es auch zu Beeinträchtigungen der Sexualfunktionen, primär bei Frauen, was zu Regelschmerzen oder einem Ausbleiben der Regel führen kann, sowie zu Störungen des Hormonhaushalts, insbesondere einer Erhöhung des Prolaktinspiegels.
Psychotherapeuten versuchen, dem Tourette-Syndrom mit verhaltenstherapeutischen Maßnahmen zu begegnen. So soll das sogenannte Habit-Reversal-Training Stresssituationen reduzieren, durch die Tics ausgelöst oder zumindest verstärkt werden. Hilfreich ist oft auch eine Musiktherapie. Besonders Instrumente, die mit Händen und Füßen gespielt werden, wie Orgel oder Schlagzeug, eignen sich offensichtlich gut, um überbordende Impulse des Nervensystems abzuleiten.
Auch mit chirurgischen Mitteln versucht man, dem Tourette-Syndrom zu begegnen. Hier kommt speziell die „Tiefe Hirnstimulation“ zum Einsatz, wie bei anderen schweren Bewegungsstörungen, wie bei der Parkinson-Krankheit, auch. Dabei wird ein Chip-gesteuerter elektrischer Impulsgeber in die Brust einpflanzt, der über dünne Kabel elektrische Impulse an ein bis zwei Elektroden sendet, die in die Basalganglien im Gehirn eingesetzt werden. Diese elektrischen Impulse sollen die biochemischen Prozesse in den Basalganglien hemmen oder stimulieren, je nach Stromfrequenz.
Da sie ähnlich wie ein Herzschrittmacher funktioniert, wird die „Tiefe Hirnstimulation“ oft auch als „Hirnschrittmacher“ bezeichnet. Wie man sich leicht vorstellen kann, ist eine solche elektrische Hirnstimulation verbunden mit der Gefahr schwerer, wenn auch meist nur vorübergehender, psychischer Nebenwirkungen. So sind Depressionen oder verschiedene Formen manischen Verhaltens keine Seltenheit. Dennoch gilt die Methode im medizinischen Sinne als wirksam, da sie laut Studien die Lebensqualität von Tourette-Patienten insgesamt steigern kann.
Cannabis-Therapie bei Tourette Syndrom
Wie bei so vielen Krankheiten, die auf Störungen des Nervensystems beruhen, berichten Betroffene von einer ausgesprochen positiven Wirkung von Cannabis auf ihr Befinden. In vielen Fällen schwächen sich die Symptome nach der Einnahme von Cannabis stark ab, manche Patienten berichten gar, dass die Beschwerden komplett verschwinden. Zudem treten beim Einsatz von Cannabis im Gegensatz zu pharmazeutischen Mitteln höchstens schwache Nebenwirkungen auf, wie leichter Schwindel, Licht- und Geräuschempfindlichkeit, Mundtrockenheit oder eine vorübergehende Konzentrationsschwäche.
Trotz aller Berichte über seine heilsame Wirkung ist Cannabis – ob in Form von Medikamenten oder in natürlichem Zustand als medizinisches Cannabis – nicht offiziell zur Behandlung des Tourette-Syndroms zugelassen, das heißt die Kosten werden von den Krankenkassen nicht übernommen. Als Begründung dafür wird angeführt, dass es bisher an den nötigen umfangreichen Studien fehlt und die Wirksamkeit trotz aller positiven Erfahrungsberichte daher nicht bewiesen ist.
Wie wirkt Cannabis bei Tourette?
Insbesondere die CB1-Rezeptoren spielen eine wichtige Rolle bei der Bewegungskontrolle. So sitzen die Rezeptoren des CB1-Typs in besonders großer Zahl in den Hirnregionen, die bei der Bewegungssteuerung und daher bei der Entstehung von Bewegungsstörungen eine entscheidende Rolle spielen, wie den Basalganglien.
In einem im Laufe der Evolution fein aufeinander abgestimmten System gegenseitiger Wechselwirkungen regulieren sich das Endocannabinoid-System und andere Botenstoff-Systeme des Nervensystems, wie das Dopamin-System, gegenseitig. So führt eine Aktivierung der CB1-Rezeptoren dazu, dass die Freisetzung von Dopamin gehemmt wird. Dadurch werden die dem Tourette-Syndrom zugrundeliegenden, in Tics mündenden überbordenden Bewegungsimpulse reduziert.
Wo Psychopharmaka durch massive Eingriffe in das Dopamin-System schwere und kaum zu steuernde Nebenwirkungen hervorrufen, wirkt Cannabis über das Endocannabinoid-System wesentlich ausdifferenzierter und ohne schwere Nebenwirkungen, indem es den Dopamin-Einfluss begrenzt und den Körper dabei unterstützt, die gestörte Homöostase wiederherzustellen.
Die Akzeptanz von Cannabis als Heilmittel
Es ist nur zu hoffen, dass sich die medizinische Forschung in Zukunft verstärkt dem Thema Cannabis zuwendet und möglichst bald die wissenschaftlichen Grundlagen dafür schafft, damit entsprechende Therapien medizinisch anerkannt und dementsprechend auch den von Krankenkassen finanziert werden. Die Betroffenen werden es danken!