Unter Ataxie versteht man eine koordinative Störung der gezielten Bewegungen. Einfache motorische Tätigkeiten, wie das Stehen und Gehen können zur Herausforderung werden, weil die Motorik und die Koordination nicht ausreichen. Im Grunde kann jede Tätigkeit von Ataxie betroffen sein, sodass es auch zu Sprachstörungen oder zu subtileren Symptomen, wie unkontrollierten Augenbewegungen kommt. Die Ursachen sind vielfältig. Meist tritt sie jedoch als Spätfolge anderer neurologischer Erkrankungen auf, wie nach einem Schlaganfall oder Gehirntumor.
Bei bestimmten Formen der Ataxie, wie der Friedrich-Ataxie, wird eine genetische Ursache vermutet. In diesen Fällen tritt die Störung meist bereits im Kindesalter das erste Mal auf. Die Behandlungsmöglichkeiten sind sehr begrenzt. Größtenteils ist die Behandlung nur symptomspezifisch und richtet sich nach dem jeweiligen Typ der Ataxie. Es gibt genau 1 Medikament, von welchem bekannt ist, dass eine Verbesserung erzielt werden kann, nämlich Omaveloxolon. Der Wirkungsmechanismus von diesem Medikament ist unbekannt. Aufgrund dieser sehr begrenzten medizinischen Behandlungsmöglichkeiten rückte Cannabis als Medizin in den Fokus, um eine Verbesserung zu erzielen.
Endocannabinoidsystem ist an Motorik beteiligt
Da das Endocannabinoidsystem eine sehr vielfältige Funktion hat, ist es unter anderem auch an der Weiterleitung von motorischen Bewegungssignalen beteiligt. Bereits 2014 untersuchte eine spanische Studie, ob es Veränderungen in der Aktivität der Cannabinoidrezeptoren im Kleinhirn, bei Patienten mit Ataxie gibt. Anhand von immunologischen Reaktionen wurde die Aktivität des CB1- und CB-2 Rezeptors gemessen. Dabei stellte sich heraus, dass es hierbei deutliche Aktivitätsunterschiede im Vergleich zur Kontrollgruppe gibt. Vor allem der CB1-Rezeptor zeigte eine deutlich höhere Aktivität, als dies normalerweise der Fall ist.
2016 führte eine englische Universität unter der Leitung von Gary Stephens eine Studie durch, die sich damit beschäftigte, den genauen biochemischen Vorgang im Endocannabinoidsystem bei einer motorischen Signalübertragung ausfindig zu machen. An Mäusen wurde festgestellt, dass hierbei vorwiegend der CB1-Rezeptor im Kleinhirn zuständig ist. Es stellte sich heraus, dass eine Überstimulierung des CB1-Rezeptors zu motorischen Defiziten führen kann, wie sie für Ataxie typisch sind. Daraus wurde abgeleitet, dass ein CB1-Antagonist, also ein Wirkstoff, der die Aktivität des CB1-Rezeptors hemmt, die Symptome entsprechend verbessern müsste.
Als weitere Möglichkeit wurde ein CB2-Agonist in Betracht gezogen, da eine Aktivierung des CB2-Rezeptors auch zu einer Hemmung der Aktivität am CB1-Rezeptor führt. Dieser Effekt wurde an Mäusen mit den synthetischen Cannabinoiden WIN55 und AM251 untersucht. Mit diesen Cannabinoiden wurde der CB1-Rezeptor entweder aktiviert oder gehemmt und im Anschluss wurden im Blut Botenstoffe gemessen, die für ein motorisches Defizit sprechen, welches für Ataxie typisch ist. Dabei bestätigte sich obige These, dass die Aktivität des CB1-Rezeptors hierbei eine entscheidende Rolle spielt. Somit sind Cannabinoide die bislang einzige Stoffgruppe, bei der überhaupt biochemisch verstanden wurde, in welcher Weise sie Ataxie beeinflussen können.
Wenige klinische Studien, aber positive Patientenberichte
Zwar gibt es mehrere Studien, die sich mit der neuroprotektiven Wirkung von Cannabinoiden beschäftigen, was bei Ataxie unter anderem auch wichtig sein kann, jedoch gibt es bislang keine Studie, die sich direkt mit der Anwendung von Cannabis bei Ataxie beschäftigt. Es gibt jedoch eine indirekte kanadische Studie aus dem Jahr 2022, die Patienten, die an Ataxie leiden, nach ihrem Cannabiskonsum befragt hat. Aus den Ergebnissen der 50 befragten Patienten wurde abgeleitet, dass Cannabis das Potenzial hat, die motorischen Störungen bei Ataxie signifikant zu verbessern.
Abseits dieser Studie finden sich im Internet mehrere Patientenberichte, die eine signifikante Verbesserung der Symptome durch Cannabis unterstreichen. Oftmals ist für Patienten mit Ataxie erst durch Cannabis eine normale Bewältigung des Alltags möglich geworden. Es gibt in diesem Zusammenhang sogar einen gerichtlichen Präzedenzfall. Im Jahr 2005, zu einer Zeit als Cannabis in Deutschland noch als wesentlich geächteter galt als dies heutzutage der Fall ist, wurde zunächst ein Ataxie-Patient aus Mannheim, wegen des Anbaus von mehreren Hundert Gramm Cannabis verurteilt.
Der Frührentner gab an, dass bei ihm kein anderes Medikament hilft, die schweren motorischen Störungen, welche sich bei ihm primär durch Gangunsicherheit und Sprechstörungen äußerten, zu lindern. Einzig das tägliche Rauchen von Cannabis konnte eine deutliche Linderung verschaffen. Der Richter sprach den Mann schließlich frei, was für damalige Verhältnisse eine Sensation war. Mittlerweile zählt Ataxie zu den Indikationen für medizinisches Cannabis und auch die deutsche Arbeitsgemeinschaft für Cannabismedizin empfiehlt dessen Verwendung bei diesem Krankheitsbild.