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Cannabis war im 19. Jahrhundert in Nordamerika und Europa ein bekanntes Medikament zur Behandlung der Migräne. Kürzlich hat ein Wissenschaftler der Mayo-Klinik aus den USA das Buch „Die Prinzipien und die Praxis der Medizin“ von Dr. William Osler, damals einem der bekanntesten Mediziner der Vereinigten Staaten, aus dem Jahr 1892 hinsichtlich seiner Empfehlungen zur Migränebehandlung durchgeschaut.
Er empfahl Cannabis sowohl für die Vorbeugung von Attacken als auch während der Attacken zusammen mit anderen Medikamenten. Oslers Buch war im 19. Jahrhundert der wichtigste medizinische Text in der englischsprachigen Welt. Dies entspricht auch meiner Erfahrung aus der ärztlichen Praxis. Auch heute setzen viele Patienten erfolgreich Cannabis sowohl zur Prophylaxe eines Migräneanfalls als auch zur Therapie des Anfalls ein. Häufig wird die Anfallshäufigkeit reduziert und die Stärke der Anfälle sowie ihre Dauer reduziert. Das entscheidet häufig darüber, ob jemand arbeitsfähig ist oder nicht.
Im 21. Jahrhundert haben Forscher die Bedeutung des körpereigenen Cannabinoidsystems für die Entstehung und Behandlung der Migräne nachgewiesen. So haben Wissenschaftler des neurologischen Instituts der Universität von Kalifornien in San Francisco eine Wechselwirkung zwischen dem Endocannabinoidsystem und dem Serotonin-System bei der Schmerzverarbeitung im Gehen nachgewiesen. Die heute bekanntesten Migränemittel sind Triptane, die an Serotonin-Rezeptoren binden. Die Wissenschaftler folgerten aus ihren Untersuchungen, dass einige der therapeutischen Wirkungen von Triptanen durch Endocannabinoide enthaltende Nervenzellen in einer bestimmten Hirnregion (periaquäduktales Grau), das bei der Schmerzbearbeitung eine wichtige Rolle spielt, vermittelt werden.
Die Bindungsstellen für Cannabinoide, die Cannabinoid-Rezeptoren, beeinflussen offenbar das Risiko für die Entwicklung von Kopfschmerzen. So besitzen Menschen mit einer bestimmten Variante des Gens, das den Cannabinoid-1-Rezeptor codiert, nach Forschung an der Semmelweiß-Universität Budapest (Ungarn), ein erhöhtes Risiko für Kopfschmerzen mit Übelkeit, „was einen spezifischen pathologischen Mechanismus bei der Entwicklung der Migräne nahelegt und darauf hindeutet, dass eine Untergruppe von Migränepatienten, die an Stress-induzierter Migräne mit häufiger Übelkeit leiden, von Behandlungen profitieren könnten, die den Endocannabinoidtonus erhöhen“. Den Endocannabinoid-Tonus, also die Konzentration der Endocannabinoide, kann man erhöhen, indem der Abbau von Endocannabinoiden gehemmt wird.
Natürlich besteht auch die Möglichkeit durch von außen zugeführte Cannabinoide, wie vor allem THC, den Cannabinoid-1-Rezeptor zu aktivieren. Die Bedeutung des Cannabinoid-1-Rezeptors für die Migränetherapie unterstreicht auch eine andere Beobachtung: An der Fakultät für traditionelle chinesische Medizin der südwestlichen medizinischen Universität in Luzhou (China) haben Forscher nachgewiesen, dass die entzündungshemmenden Wirkungen von Elektroakupunktur auf Migräneattacken durch den CB1-Rezeptor vermittelt wurden.
In einem Rattenmodell für Migräne reduzierte THC die Schmerzen, wenn es in der richtigen Dosis und zur richtigen Zeit verabreicht wurde. Die Wissenschaftler der staatlichen Universität von Washington in Pullman schrieben, dass ihre Befunde „anekdotische Hinweise für die Verwendung von Cannabinoiden zur Behandlung der Migräne beim Menschen unterstützen und den CB1-Rezeptor einschließen“.
Die Häufigkeit von Migräne-Kopfschmerzattacken kann gemäß Forschung durch Wissenschaftler des Instituts für klinische Pharmazie der Universität von Colorado in Aurora und anderer medizinischer Institutionen von Colorado durch die medizinische Verwendung von Cannabis reduziert werden. Sie veröffentlichten im Jahr 2015 eine Analyse von Karteikarten von 121 Erwachsenen mit einer primären Migränekopfschmerz-Diagnose, denen durch einen Arzt zwischen Januar 2010 und September 2014 eine Migränetherapie oder eine Prophylaxe mit Cannabis empfohlen worden war, und die später den Arzt mindestens noch einmal aufsuchten. Die Migräne-Anfallshäufigkeit nahm mit Cannabis von durchschnittlich 10,4 auf 4,6 pro Monat ab. Die meisten Patienten verwendeten mehr als eine Cannabisform und verwendeten es täglich zur Vorbeugung von Migräne-Anfällen. Positive Wirkungen wurden von 48 Patienten (39,7 %) angegeben, wobei die häufigsten Wirkungen die Abnahme der Migräne-Anfallshäufigkeit (24 Patienten [19,8 %]) und verkürzte Migräneanfälle (14 Patienten [11,6 %]) waren.
Bisher gibt es erst eine klinische Studie zur Wirksamkeit von Cannabis bei Migräne. Eine italienische Studie, die im Juni 2017 beim Kongress der europäischen Akademie für Neurologie im Juni vorgestellt wurde, zeigt, dass Cannabis so wirksam wie verfügbare pharmazeutische Therapien für die Prophylaxe der Migräne ist. In einer Phase 2-Studie erhielten 79 Patienten mit chronischer Migräne eine tägliche Dosis von 25 mg Amitriptylin oder 200 mg Cannabisextrakt mit THC und CBD über einen Zeitraum von 3 Monaten.
Der Extrakt wurde aus der Cannabissorte Bedrocan mit 19 % THC und der Sorte Bedrolite mit 9 % CBD hergestellt. 48 Patienten mit Cluster-Kopfschmerzen erhielten täglich entweder die gleiche Dosis des Cannabisextraktes oder 480 mg Verapamil. Bei akuten Schmerzen erhielten die Teilnehmer zusätzlich 200 mg des Extraktes bei beiden Kopfschmerzformen. Während der Cannabisextrakt und Amitriptylin eine ähnliche Reduzierung der Anfälle erreichten, nahm die Stärke und Zahl der Clusterkopfschmerz-Anfälle nur geringfügig ab. Bei der Behandlung der akuten Schmerzen reduzierte Cannabis die Schmerzintensität bei Migräne-Patienten um 43,5 %. Das gleiche Ergebnis wurde bei Patienten mit Cluster-Kopfschmerzen erzielt, aber nur bei denen mit Migräne in der Kindheit.
Cannabis wird nur langsam als Migränemittel wiederentdeckt. Es gibt bisher kaum Studien mit Menschen. Wie und warum Cannabis wirksam ist, zeigen erste Forschungsergebnisse aus der Grundlagenforschung zur Bedeutung des Endocannabinoidsystems bei der Entstehung und Behandlung der Migräne.