Sebastian S. ist in Thurland bei Dessau groß geworden. Genauer gesagt, hat er dort eine schöne DDR Kindheit bei seinen Großeltern verbracht, wie er selbst sagt. Seine Mutter studierte noch, als er geboren wurde, und somit hat er die ersten Jahre viel Zeit bei den Großeltern verbracht. Sebastian war schon immer sehr sportlich, hat vom zwölften bis zum einundzwanzigsten Lebensjahr durch gutes Zutun seines Vaters Leistungssport im Ringerverein betrieben und ist MTB und BMX gefahren.
Der Tatendrang war groß, vor allem was Bewegung betraf. Dass die Schule da nicht so gelegen kam, kann man sich vorstellen. Er konnte sich für die Schule einfach nicht begeistern, kämpfte sich mit seinen Eltern im Nacken irgendwie durch und blieb nach zunehmenden Schwierigkeiten Richtung Pubertät schlussendlich in der neunten Klasse sitzen. In dieser Zeit hatten sich auch seine Eltern getrennt, und ihm fehlte, wie er sagt, die führende Hand des Vaters. Das Sitzenbleiben war für ihn eine furchtbare Niederlage, war er doch eigentlich schlau und zu mehr fähig. Dass er ADHS hatte und dies der Schlüssel zu all seinen Problemen war, sollte er noch weitere 16 Jahre nicht erfahren.
Resilienz durch Cannabis
Zur Zeit der Trennung und des Sitzenbleibens war auch Cannabis zum ersten Mal Thema in seinem Leben. Er war 16 und probierte Cannabis mit seinen Freunden. Allerdings verspürte er damals nahezu keine Wirkung, wie es viele Konsumenten beim Erstkonsum berichten. Seinen ersten Cannabisrausch hatte Sebastian im Jahr 1999. Er war 17 und genoss mit Freunden die Sonnenfinsternis, während er zum ersten Mal einen Geschmack davon bekam, wie sehr ihm dieses Zeug noch helfen sollte. Von da an nutzte Sebastian das Kraut für seine Zwecke. Er war nie der Typ, der sich den ganzen Tag zuballert. Nein, er lernte. Sein nicht erreichtes Klassenziel hatte ihm derart zugesetzt, das konnte und wollte er nicht auf sich sitzen lassen – er wollte einen guten Abschluss! Zu der Zeit war er natürlich noch klassischer Selbstversorger; ein Antrag an die Krankenkasse für Cannabis zum Lernen hätte wohl auch wenig Erfolg. Jedenfalls schaffte er seinen Abschluss mit 1,2. Er lernte unter der Woche und ließ den Stress am Wochenende beim Kiffen abfallen.
”Das wirkt ja immer noch ein wenig nach und entspannt einen noch die nächsten Tage”, sagt er und erklärt, er hätte so auch seinen Bewegungsdrang und seine Unruhe in den Griff bekommen. Auch negative Gefühle aufgrund der Trennung seiner Eltern, die ihn zusätzlich ablenkten und belasteten, konnte er nun besser handeln. Durch diesen Erfolg wollte Sebastian mehr und meldete sich beim Gymnasium an. Seine Intelligenz gab dies zweifelsohne her, doch durch die Zeit, die er sich in der vorherigen Schule nicht hatte konzentrieren können, waren zu große Lücken entstanden, und er schaffte den Anschluss nicht. Dies sah er zum Glück schon nach zwei Monaten ein, verließ die Schule und begann eine Ausbildung zum Industriemechatroniker.
Eigentlich war das nicht sein Job, er wollte schon immer etwas Soziales machen, mit Menschen arbeiten. Dennoch beendete er seine Lehre, um erst mal etwas in der Tasche zu haben. Auch da half ihm Cannabis ungemein, seinen Belohnungsaufschub auszuhalten, seine negativen Gefühle in den Griff zu bekommen und zu tun, was getan werden musste. Er musste schnell Geld verdienen, denn seine Eltern hatten schon immer darauf gedrängt, er solle mit 18 gefälligst auf eigenen Beinen stehen und ausgezogen sein. Sein Vater war ein Karrieremensch und wollte mit dieser Einstellung sicher nur das Beste für seinen Sohn. Gesagt, getan. Trotz aller Unwägbarkeiten steckte er seine eigenen Bedürfnisse zurück und tat, was seine Eltern erwarteten.
Die ganze Zeit trug ihn das Cannabis, wie er sagt, und es trug ihn bis nach Bayern. Dort lebte sein Cousin, mit dem er früher Musik gemacht hatte und der für ihn früher schon wie ein Bruder gewesen war. Sie verloren sich aus den Augen, als er vor der Wende mit seiner Mutter (Sebastians Tante) in den Westen floh. Schon damals hatte Sebastian beschlossen, ihm eines Tages zu folgen. 2004 ging er dann in den Zivildienst und versuchte, ein freiwilliges soziales Jahr anzuhängen, um sich seinen Traum von der sozialen Arbeit doch noch zu erfüllen. Doch leider wurden ihm auch diesmal Steine in den Weg gelegt. Ihm wurde das BAföG verweigert, und er sollte wieder zurück zu seinen Eltern ziehen, mit denen es, wie schon erwähnt, nicht immer einfach war.
So arbeitete er notgedrungen einige Jahre als Mechatroniker weiter, stumpf, monoton und ohne Möglichkeit zu Bewegung und sozialer Interaktion. Er war unglücklich und unterfordert und unglücklich und unterfordert, und so fort… Im Jahr 2006 nahm er dann endlich einen Job in München an, rauchte abends sein Cannabis und arbeitete tagsüber hart in einem Beruf, den er nicht mochte. Aber immerhin, er hatte sein Medikament, seinen Cousin und kein schlechtes Leben. Bis er eines Abends mit dem Auto von der Arbeit heimfuhr, und von einer Streife angehalten wurde. Der letzte Konsum war fast 24 Stunden her, er fuhr also nicht berauscht, doch die bayerische Polizei ist bekanntermaßen auch bei Kleinstmengen unerbittlich. Und so nahmen die Dinge ihren Lauf. Sebastian war für ein ganzes Jahr den Führerschein los und hatte eine MPU am Hacken. Er war ganz knapp über der erlaubten Nanogrammgrenze, welche bei einem Nanogramm pro Milliliter Blutserum liegt.
Prohibition und Repression zerstören Leben
Als Sebastian, um die MPU zu bestehen, mindestens ein Jahr auf den Konsum seiner Medizin verzichten musste, bemerkte er zum ersten Mal wirklich, was Cannabis ihm eigentlich gab. Ohne fiel er in alte Muster zurück, trank jeden Abend Bier und machte Halligalli, wie er berichtet. Disziplin und Struktur waren aus seinem Leben verschwunden, und der Drang nach einfacher, schneller Belohnung statt nach einem wertvollen, konsistenten Leben wieder da. Er hielt durch und bekam seinen Führerschein zurück, allerdings war all sein Erspartes für die MPU draufgegangen, sodass er sogar die Zahlungen an seine Rentenversicherung aussetzen musste.
Zu allem Überfluss hatte sein Auto, als er es abholen wollte, auch noch einen Schaden – er musste es verkaufen. So musste er 2009 komplett von vorn anfangen, mal abgesehen von der Ausbildung in dem Beruf, den er nicht mochte. 3 Jahre arbeitete er noch in „seinem“ Beruf, bis er eines Tages zusammenbrach. Einfach so. Er stand auf und fing an zu weinen. Eine Stunde, zwei Stunden, es hörte einfach nicht mehr auf. In seiner Not, er war sich sicher, er habe ein „einfaches“ Burn-out, suchte er Hilfe beim psychologischen Notdienst der Caritas. Termine bei Psychologen sind in allen Bundesländern schwer zu bekommen, und gerade Notfälle bekommen schwer Hilfe. Da ist das niederschwellige Hilfeangebot der Caritas ein wahrer Lebensretter. Auch dort wurde auf Burn-out bzw. Depression getippt, denn Sebastian war nach eigenen Angaben einfach mental kollabiert. Von da an war er arbeitsunfähig, aber Hilfe hatte er noch keine. Er suchte einen Psychologen, und nachsage und schreibe einem halben Jahr hatte er dann endlich seinen ersten Termin.
Die Odyssee
Zu der Psychologin, die er aufsuchte, war er sofort aufrichtig bezüglich seines Konsums. Er wollte wirklich Hilfe. Diese diagnostizierte eine Depression und eine Anpassungsstörung (die akute, kurzzeitige Form der PTBS ist) und riet ihm zu Psychopharmaka. Sie sagte ihm, er könne alternativ auch eine Psychotherapie machen, für welche er sich entschied, da er nie ein Freund von Tabletten gewesen war. Als diese Dame die Gemeinschaftspraxis, in der sie arbeitete, verließ, platzte der Knoten. Sebastian begab sich bei dem in der Praxis verbliebenen Psychologen in Behandlung, welcher Einblick in die Patientenakte bekam. Die vorherige Psychologin hatte in seine Akte “Cannabisabusus” geschrieben, obwohl er offen mit ihr über seinen wirklich geringen und geregelten Konsum gesprochen hatte. Er kam sich betrogen vor, doch leider ist das die Norm.
Wer Cannabis konsumiert, auch wenn er es zur Selbstmedikation tut, bekommt diesen Stempel in seine Akte. Wenn jemand seine Schmerzen mit Opioiden behandeln würde, welche er nicht verschrieben bekommen und nicht in einer Apotheke gekauft hat, würde dies auch als Missbrauch und er als Abhängiger gelten. Was allerdings wirklich ein Grund ist, sich aufzuregen ist, dass sie es ihm negativ auslegte, dass er sich für Therapie statt für Pillen entschieden hat. Man will ja niemandem etwas unterstellen, aber es scheint ein Problem zu sein, dass Psychologen an Pillen verdienen, nicht aber an der Durchführung einer Psychotherapie durch einen Kollegen. Außerdem unterstellte sie, dass alle Probleme des Herrn S. vom Cannabis kämen – hätte sie sich die Mühe einer Anamnese gemacht, wäre ihr vielleicht aufgefallen, dass sie Blödsinn schreibt. Bei seinem neuen Psychologen war er allerdings einfach an einen guten Arzt geraten, denn dieser machte erst einmal eine vernünftige Diagnose.
Nach einem ADHS Test, der alle Rekorde sprengte, war die Problematik nun klarer. Sebastian hatte keinen Burn-out, er hatte ein Boreout. Monotone Arbeit ohne soziale Kontakte und Bewegung ist für einen Menschen mit ADHS das Psychohamsterrad schlechthin, der Zusammenbruch vorprogrammiert. Nach seiner Diagnose und seinen guten Erfahrungen mit seiner jahrelangen Selbstmedikation wusste er natürlich sofort, was er wollte – Cannabispatient werden! Aber so leicht ist das jetzt mal nicht, denn man muss austherapiert sein, das heißt die Medikamente, die die Leitlinie vorschreibt, nicht vertragen. Glücklicherweise gehören zur Standardtherapie erwachsener ADHS-ler nur zwei Medikamente, Strattera und Medikinet adult. Beide vertrug er nicht, und zwar auf sehr unschöne Arten. Ein Medikament wurde innert Sekunden für ungut befunden, da es die Libido komplett zerstörte. Das andere, weil es ihn derart arousal (erregt, nicht im sexuellen Sinne) machte, dass er die Fäuste in den Taschen ballte und fast platzte.
Er beschrieb das Gefühl mit: “Es ist, als würdest du im Ring stehen, und gleich geht der Kampf los…und das den ganzen Tag.” Er rief seinen Arzt an und wollte absetzen – ausschleichen, um genau zu sein. Psychopharmaka setzt man ab, indem man langsam die Dosis reduziert, ansonsten kann es zu fürchterlichen Nebenwirkungen (Absetzsyndrom) kommen. Das war der Punkt, an dem sich der zweite Psychologe als nicht vertrauenswürdig erwies. Er hatte in die Akte geschrieben, Sebastian hätte die Tabletten auf eigene Faust abgesetzt. Mit dieser Einstellung galt S. nicht als austherapiert, obwohl er das Gift widerwillig eingenommen hatte. Er fühlte sich betrogen und im Stich gelassen und begann eine zweite Psychotherapie. Dieser Therapeut hatte echtes Interesse an den Schicksalsschlägen Sebastians und riet ihm, es gut sein zu lassen. Eigentlich wollte er klagen.
Gegen diesen unehrlichen Psychologen und eigentlich gegen das Unrecht und Ausgeliefertsein als solches. Er tat es nicht, sondern nutzte seine Kraft für die Therapie und den richtigen Weg. Eigentlich war Sebastian fertig. Fertig mit Ärzten, fertig mit Vertrauen, fertig mit legal. Er wollte keinen Arzt mehr suchen, der ihn anlog und alles nur noch schlimmer machte. Stattdessen baute er sein Gras selbst an. Aber auch Sebastian war klar, dass ihn das früher oder später in noch größere Schwierigkeiten bringen würde, also wagte er einen letzten Versuch. Er war auf die Seite „Cannabis Ärzte“ aufmerksam geworden und fand prompt einen Arzt in Ulm.
Ihm erzählte er nochmals seinen immer länger werdenden Leidensweg und wurde ernst genommen. Endlich bekam er sein Rezept, und wenn man sich die Menge ansieht, die diesem Mann das Leben lebenswert macht, kann man angesichts seiner Odyssee nur den Kopf schütteln. Er bekommt nun täglich 0,15 bis 0,2 g Cannabis und ist ein sehr glücklicher Mensch. Sein Statement zu seiner Geschichte ist: „Wenn du ehrlich zu Ärzten bist und offen mit ihnen darüber kommunizierst, reiten sie dich nur in die Scheiße!”
Aus Erfahrung sei gesagt – mit jedem Patienten, der schlechte Erfahrungen macht, kommen wir der Lösung ein bisschen näher. Sebastians Geschichte war nicht umsonst so hart. Sie hat den Weg geebnet für jeden, der sie liest.