Ein Hamburger Arzt berichtet über seine Erfahrung als Cannabismediziner und seine jüngste Lieblingsstudie
Als Arzt hilft Dr. S. täglich austherapierten Menschen mit Schmerzen und Autoimmunerkrankungen. Seine Praxis liegt in der dritten Etage eines Altbaus am Hamburger Hauptbahnhof. In seinem über drei Meter hohen mit Stuck bedeckten Behandlungsraum hört man nichts mehr vom Bahnhofsgewirr. Viele üppige Pflanzen stehen in der Nähe zweier Fenster zu einem stillen Hinterhof. Dr. S. verstehe sich als Ursachenforscher, denn er nehme sich viel Zeit für seine Patienten, suche nach Ursachen und versuche, Stress im Nervensystem seiner Patienten zu lösen. „Meine Praxis hat einen guten Ruf, viele kommen auch von überregional. In zwei Praxisjahren habe ich nur dreimal Medikamente verschrieben“, sagt er fast stolz.
Das ändert sich im Januar 2022. Ein Telemedizin-Unternehmen fragt an, ob er eine Online-Plattform nutzen und medizinisches Cannabis auf Betäubungsmittelrezept verschreiben würde. Als Neuling in der Cannabismedizin ist er zunächst extrem skeptisch. „Ist das letztlich nur ein Legalisierungsservice für Konsumenten?“, sind seine Bedenken. „Oder sind gar alle Patienten in Wirklichkeit nicht chronisch Kranke, sondern Freizeitkiffer?“ Auch die Schädigung seines Rufes besorgt ihn: „Cannabismediziner – das klingt doch mehr nach Dealer als Arzt“, empfindet er. Er zeigt uns ein Video von australischen Eltern, die ihrer schwerbehinderten Tochter Cannabisdampf über eine Atemmaske verabreichen. Kurze Zeit später hören Ihre dauerhaften Krämpfe und Schreianfälle auf, was kein herkömmliches Medikament zuvor leisten konnte. Unter anderem dieser Patientenbericht hätte ihn motiviert, bei Medizinalcannabis genauer hinzuschauen. Er betreibt Recherche, sichtet Studien, besucht eine renommierte Cannabisapotheke in der Nähe von Köln und schaut persönlich hinter die Kulissen von Lagerung, Testung und Versand von Medizinalcannabis.
Als Fazit findet er heute, nach 9 Monaten Erfahrungen mit über 250 Cannabis-Patienten, klare Worte: „Wer die rationale, medizinisch begründete Cannabis-Therapie ablehnt, verdient entweder daran oder weiß zu wenig darüber.“ Von dem YouTube-Kanal seiner Praxis finden wir mehrere Berichte von Patienten, die aktiv über diese Therapieform berichten wollen. Weil es die einzige Therapieform war, die ihnen bei chronischen Leiden half und mit denen sie von nebenwirkungsreichen Medikamenten weggekommen sind. „Ich hatte drei erfolglose Harnröhren-OPs und Schmerzen bei jedem Wasserlassen. Mit Cannabis habe ich ein neues Leben“, „Ich habe keine Rheumaschmerzen mehr, konnte zwei Blutdrucksenker absetzen und schlafe wieder durch“, „Meine chronischen Rückenschmerzen sind endlich erträglich, ich konnte sogar Tildin [Anm. ein starkes Opiat-Schmerzmittel] absetzen“, hören wir dort.
„Medizinisch gesehen sind das großartige Effekte, die mich als Arzt besonders motivieren“, sagt Dr. S. „Auch wenn Medizinalcannabis kein Wundermittel ist, ein Abhängigkeitsrisiko besteht, und nicht jeder von der Therapie profitiert.“ Laut einer anonymen Patientenumfrage der Online-Plattform mit über 120 Teilnehmern sind über 90 % sehr zufrieden mit ihrer Medikamentenwirkung und nur ein kleiner Prozentsatz berichtet von Nebenwirkungen und der gefürchteten Abhängigkeit von Cannabis. „Das sind deutlich bessere Zahlen, als die Cannabis-Begleitstudie der BfArM nahelegt, allerdings ist mein Patientenkollektiv auch ein anderes.“
Doch wie wirkt Cannabis eigentlich?
„Die Wirkung“, so sagt Dr. S., „liegt an einem Cocktail verschiedenster Pflanzenwirkstoffe, u. a. dem Hauptwirkstoff Tetrahydrocannabinol, aber auch CBD, Terpenen etc., insgesamt hunderten wirksamen Stoffen. Dabei zeigt sich, anders als bei Reinsubstanz-Medikamenten, eine komplexe und regulationsfördernde Wirkung auf zahlreiche Gewebe. Für diese besondere Wirkung wird der Name „Entourage-Effekt“ verwendet. Die Pflanzenstoffe binden an das sog. Endocannabinoidsystem an, ein chemisches Signalsystem des Körpers, das Rezeptoren in beinahe jedem Organ des Körpers aufweist, von Gehirn bis zum Fettgewebe.“
Bei seinen Recherchen habe er eine erstaunliche Studie gefunden. Labormäusen, denen ein Cannabinoidrezeptor zuvor durch eine Genschere zerstört worden war, starben in einem Dreimonatszeitraum etwa sechsmal häufiger als gesunde Mäuse („Increased mortality […] in cannabinoid CB1 receptor knockout mice“, Zimmer et al. 1999). „Eine unnötig grausame Studie mit zweifelhaftem Wert“, beurteilt der Absolvent der Berliner Charité, der als rationaler Tierversuchsgegner schon vor der Uniklinik Hamburg für tierversuchsfreie Forschung protestierte. „Aber“, so gibt er zu „die Studie könnte auf eine große Bedeutung des Endocannabinoidsystems hinweisen und damit, warum Cannabis bei so vielen verschiedenen Krankheitsbildern eingesetzt werden kann.“
Mittlerweile sei die Wirkung von Medizinalcannabis in zahlreichen Studien für viele Krankheitsbilder erwiesen oder erhärtet worden – von Schmerzen über Schlafstörungen, Appetitstörungen, Reizdarm, Migräne und vielem mehr. „Die Studien, haben aber oft Probleme mit kleinen Fallzahlen oder schlechter Vergleichbarkeit, sodass bisher nur selten echte, evidenzbasierte Handlungsempfehlungen für die Ärzteschaft formuliert werden konnten.“ Es fehle einfach das Geld und die monetären Interessen der Pharmariesen, Studien von höchster Güteklasse zu finanzieren. Dennoch: Im Paper „[…] Going Beyond Misuse“ (Carvalho et al. 2020) zeigt sich bei 29 % von über 1100 Befragten eine Reduktion der Abgeschlagenheit, 50 % eine Steigerung des Appetits und 80 % eine Reduktion der Schmerzen durch den Konsum von Cannabis bei chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen. Für Schmerz, Spastik bei Multipler Sklerose, Tourette-Syndrom und Übelkeit sei Cannabis als Therapieform, wenn die herkömmlichen Mittel nicht geholfen haben, ebenfalls recht gut belegt.
Doch wie finden ihn seine Patienten? „90 % meiner Patienten kommen über Online-Recherche. Damit ich mich auf meine Arbeit konzentrieren kann, nutze ich eine Telemedizin-Plattform, bei der Patienten einen Fragebogen ausfüllen und einen Diagnosenachweis ihrer Ärzte hochladen. Nur solche Patienten kommen anschließend in meine Online-Sprechstunde, wo wir gemeinsam über eine mögliche Cannabis-Therapie sprechen. Die Patienten haben also vorher bereits ihren Arzt konsultiert, bleiben auch in vollständiger Weiterbehandlung ihrer Ärzte.“
Kommen Patienten in die Praxis und fragen: „Verschreiben Sie auch Cannabis?“
„Tatsächlich kommt das gelegentlich vor, weil viele Patienten verzweifelt auf der Suche nach Ärzten sind, die der Cannabistherapie gegenüber aufgeschlossen sind“, sagt er. „Die meisten Patienten sind auf Ablehnung ihrer Ärzte gestoßen. Manche wurden sogar aus der Praxis geworfen oder kriegen ihre Arztbriefe nicht ausgehändigt, weil sie nach Cannabis zu therapeutischen Zwecken gefragt haben. Diese Reaktionen sind mir völlig unverständlich. Ich kann sie mir nur durch Unwissen und falsche Vorurteile erklären, denn die meisten Ärzte wollen Gutes.“ Der Telemedizin-Service habe dazu geführt, dass er mittlerweile Patienten aus jedem Bundesland versorgt und mit Cannabisapotheken in ganz Deutschland telefoniert. Falls es zu Rückfragen kommt oder eine Dorfapotheke die Echtheit des Rezeptes anzweifle oder noch nie ein Rezept für Medizinalhanf gesehen haben. „Da meine Praxis ausgebucht ist, bleibt mir für die Cannabistherapie oft nur die Telemedizin, weil sie zeitlich effizienter ist. Die Patienten müssen vorher bei Ihrem Arzt sorgfältig untersucht und behandelt worden sein und erst, wenn die herkömmlichen Mittel nicht wirken oder infrage kommen, kann man diese Therapieform nutzen. Wenn ich mich entscheide, Medizinalcannabis zu verschreiben, bekommen die Patienten ihr Rezept per Post zugesandt. Wenn Sie eine spezialisierte Versandapotheke wählen, bekommen sie ihr Medikament sogar direkt nach Hause“, erklärt er. „Dieser Service hilft sehr vielen austherapierten Menschen weiter, wie man an meinen Patienteninterviews sehen kann. Grundsätzlich sind nämlich die meisten Patienten sehr zufrieden mit ihren Ärzten vor Ort, scheuen aber das Thema Cannabis anzusprechen, weil sie befürchten, als Drogenabhängige abgestempelt zu werden. Hier schließen wir die Lücke und helfen durch professionelle Aufklärung, um der rationalen, medizinisch begründeten Cannabistherapie aus der Schmuddelecke herauszuhelfen.“
„Ob er selbst kifft?“ Fragen wir ihn kurz vor der Verabschiedung direkt. „Nein“, sagt er und wiegelt ab. Er habe als Teenager gelegentlich in illegalen Selbstversuchen konsumiert und es schon vor vielen Jahren sein gelassen. Es bekomme ihm einfach nicht.