A Lesson From Canada
Dass Cannabis gegen die unterschiedlichsten körperlichen und seelischen Leiden hilft, weiß der Mensch schon seit Jahrtausenden, auch wenn er sich manchmal so gibt, als wäre das Gegenteil der Fall. In ganz Europa wird nach und nach legalisiert, und auch Deutschland ist seit März 2017 mit von der Partie, wenn auch „nur“ für Patienten. Das Problem ist allerdings, dass, wenn man eine Arznei derart lange ignoriert und sogar verbietet, es natürlich keine belastbare Studienlage gibt. Dies führt im Umkehrschluss dazu, dass Patienten, denen nun endlich geholfen werden könnte, ihre Medizin mit der Begründung nicht bekommen, dass es keine handfesten Beweise für die Wirksamkeit gäbe.
Es klingt paradox, und das ist es auch, denn Patienten wissen meist selbst am besten, was ihnen hilft. Aber um als Medikament in eine Leitlinie zur Behandlung einer Erkrankung aufgenommen zu werden, muss dieses eine Evidenz aufweisen, was bedeutet, dass eine große Menge zusammengetragener Daten eindeutige Belege zur Wirksamkeit, Dosierung und Nebenwirkungen vorweisen muss.
„Was tut man also, wenn man selbst mit dem Latein am Ende ist? „
Deswegen scheitern in Deutschland leider reihenweise Patienten an der Kostenübernahme durch die Krankenkassen. Des Weiteren wüssten wir, auch wenn wir die Wirksamkeit akribisch belegt hätten, nicht welche Strains (Stämme oder Sorten) sich im Wirkprofil für welche Erkrankungen eignen, da die Wissenschaft die Interaktion und Funktion der 144 bis jetzt gefundenen Cannabinoide und der unzähligen Terpene nur ansatzweise versteht. Die Forschung steckt hier noch in den Kinderschuhen und hält in den nächsten Jahren sicher viel Interessantes für uns bereit.
In Deutschland wird Cannabis (in absteigender Reihenfolge) für Schmerzen, Spastiken, Essstörungen, ADHS, chronisch entzündliche Darmerkrankungen, Ticstörungen, Epilepsie, Restless Legs Syndrom und Schlafstörungen verschrieben. Die Auswahl der Sorten ist leider gering, und somit ist es ebenfalls schwierig, aus den Erfahrungswerten der deutschen Cannabispatienten neue Erkenntnisse zu ziehen. Was tut man also, wenn man selbst mit dem Latein am Ende ist? Abgucken!
Der Blick über den Teich
Kanada hat Cannabis zur medizinischen Anwendung schon (2001) legalisiert, inzwischen sogar den Freizeitkonsum und auch den Eigenanbau, welcher erst erlaubt und dann wieder verboten war. Demzufolge sind dort sowohl Studienlage als auch Erfahrung fortgeschritten und unheimlich wertvoll. Wie fortgeschritten die Kanadier im Umgang mit Cannabis sind, zeigt eine aufstrebende Firma, die es schafft, Patienten, Ärzte, Wissenschaftler, Grower, Händler und selbst die Regierung in einem Netzwerk auf eine völlig neue Art und Weise zusammenzubringen. So oder so ähnlich könnte und sollte die Zukunft bald überall aussehen.
Strainprint – ein Hauch von Zukunft
Strainprint ist momentan der Marktführer, wenn es um Daten zum Gebrauch von medizinischem Cannabis geht. Der Ansatz von Strainprint ist, durch Sammeln und Auswerten von Patientendaten in Zusammenarbeit mit allen Bereichen, welche relevant für die bestmögliche Versorgung der Patienten sind, eine Datenlage und einen Wissenspool zu schaffen, an dem sich Wissenschaftler, Ärzte und Produzenten weltweit bedienen können. Gegründet wurde Strainprint 2016 von vier Cannabispatienten, welche gleichzeitig auch Serienunternehmer sind.
Stephanie Karasick, welche nach einem Schicksalsschlag in ihrer Kindheit selbst jahrelang unter schweren Depressionen litt, bevor sie Cannabis entdeckte, gehört zu diesen. Sie sagt, dass dies der Moment war, an dem sie sich zum ersten Mal in ihrem Leben glücklich gefühlt habe. Sie wollte, dass diese Chance auch andere Menschen bekommen und gründete Strainprint. Sie ist das sogenannte Brainchild des Unternehmens.
Was Strainprint so besonders macht, ist der Weg der Datensammlung. Sie haben gemeinsam mit Patienten eine App entwickelt, in der man sich ganz einfach anmelden und seine Erfahrungen speichern kann – völlig anonym, versteht sich. Die Benutzeroberfläche ist intuitiv und kann problemlos von älteren Menschen benutzt werden, was ausgesprochen wichtig ist, da sich das Alter der Patienten zwischen 18 und 75 bewegt. Der Durchschnitt ist zwischen 30 und 50 Jahre alt. Initial speichert man seine zu behandelnden Beschwerden, wie stark diese ausgeprägt sind, welchen Strain, wie viel und auf welche Art man konsumiert hat.
Nach kurzer Zeit erhält der Patient in der App eine Benachrichtigung, die ihn dazu anhält einzutragen, wie sich die Beschwerden nun nach dem Konsum verhalten und wie man sich allgemein nach Konsum des Strains fühlt. Die App stellt die Daten natürlich nicht nur Wissenschaftlern und Ärzten zur Verfügung, sondern auch dem Patienten selbst. Sie soll helfen, die Behandlung mit Cannabis zu optimieren, indem man sich seine eigenen Reviews ansehen kann. Sie sind nach der subjektiven Wirksamkeit für den Patienten sortiert. Außerdem kann der Patient in der App nach Symptomen suchen und sich ansehen, welche Cannabissorten anderen Patienten geholfen haben – je mehr Menschen die App nutzen, desto größer also auch der Nutzen für jeden einzelnen Patienten.
Zurzeit wird die App von mehreren Zehntausend Patienten genutzt, es gab über 1.500.000 Patienteninteraktionen und es wurden über 90.000.000 Datenpunkte zur Wirksamkeit von Cannbisprodukten gesammelt. Die Patientendaten sind allesamt auf kanadischen Servern gehostet, welche die Sicherheitsstandards des Militärs aufweisen. Da es nicht jedem, schon gar nicht dem Laien möglich ist, aus diesen unzähligen Daten schlüssige Informationen zu extrahieren, stellt Strainprint regelmäßig einen Report zusammen, welchen man momentan kostenlos über deren Seite anfordern kann. Da ich noch mehr über dieses bahnbrechende Konzept wissen wollte und mir unter anderem unklar war, wie man aus subjektiven Daten objektive macht, habe ich Andrew Muroff, CEO von Strainprint interviewt.
Strainprint Interview
Zuerst habe ich Andrew ein paar Dinge zur App gefragt, da dies der Teil ihrer Arbeit war, der mich am meisten faszinierte und welchen ich mir auch für deutsche Cannabispatienten ab sofort wünschen würde. Ich fragte ihn, wie viele Daten über die App zusammengetragen worden sind, und er erzählte mir, dass sie im Moment über 1,6 Millionen von Patienten übermittelte Ergebnisse und insgesamt über 80 Millionen Datenpunkte für über 3000 laborgeprüfte Produkte gesammelt haben. Damit sind Produkte gemeint, deren chemische Inhaltsstoffe identifiziert wurden. Außerdem erzählte er mir und das ist wenig überraschend, dass die App inzwischen den Beat App Award gewonnen hat. Sie ist Teil der größten “real-world evidence”- Überwachungsstudie der Welt.
Dies bedeutet, dass patientenbezogene Daten aus der Überwachung ihres (in diesem Fall Konsum-) Verhaltens und nicht aus randomisierten Doppelblindstudien entnommen werden. Diese Studien sind zweifellos wichtig für die Evidenz, jedoch eventuell weniger geeignet für ein Arzneimittel, welches derart multifaktoriell unterschiedlich wirkt. Durch die unzureichende Datenlage haben auch kanadische Ärzte Probleme bei der Verschreibung von Cannabis, denn keine Leitlinie gibt Daten zur Dosis oder der Sorte an und keine Studienlage gibt genug Daten für eine Leitlinie her. So ist die Datenlage von Strainprint der beste Leitfaden für Ärzte in Kanada, um die Medikation ihrer Patienten zu optimieren, sagt Andrew.
Die Plattform ist das Leitwerkzeug für die größte führende Pharmakette in Kanada – shoppers drug mart, mit 1300 Zweigstellen. Zusätzlich stellt Strainprint Ärzten und anderen medizinischen Berufen technische Tools zur Verfügung, um ihre Patienten in Echtzeit zu überwachen und sicherzugehen, dass sie ihre Medizin einnehmen und keine unerwünschten Nebenwirkungen eintreten, natürlich alles mit Einverständnis des Patienten. Es hilft den Ärzten einfach, näher am Patienten zu sein. Dann gibt es da noch die Medical Advisors, welche Hand in Hand mit Strainprint arbeiten und in einigen Fällen selbst Cannabisärzte sind, welche die Tools von Strainprint in ihren Praxen nutzen.
Sie leiten sie beispielsweise in Fragen zur Verbesserung der Produkte an, an denen momentan für Ärzte und Patienten geforscht wird. Zum anderen sind einige Medical Advisor auch Wissenschaftler, welche retrospektive Auswertungen ihrer Daten in wissenschaftlichen Journalen oder auf medizinischen Konferenzen publizieren. Nun noch mal zurück zu der Frage, wie aus subjektiven Patientendaten nun objektiv nutzbare Daten werden. Andrew entgegnete, dass dies eine berechtigte Frage sei, und erklärte, dass es eine Momentaufnahme (Realtime) sei, welche immer aktualisiert wird, wenn ein Patient seine Medikation dokumentiert. Er sprach davon, dass in den Fällen, in denen ein Arzt den dokumentierten Konsum überwacht, die Daten klinisch valide werden, dies sei nicht immer der Fall.
Auf der individuellen Ebene ist es eine wissenschaftlich ausgerichtete Erfassung der medizinischen Ergebnisse des Patienten, um die Verbesserung der Symptome zu dokumentieren (vorher – nachher Vergleich). Und zwar anhand der Menge, Konsumform und – ACHTUNG – des chemischen Profils des konsumierten Cannabis. Hier wird sich ausdrücklich nicht nach dem Namen eines Strains, sondern an den Inhaltsstoffen orientiert, welche stark variieren können. Ich hatte initial schon Bezug auf die unglaubliche Variabilität der Cannabinoide und Terpene genommen. „Wenn man Hunderttausende von Anwendungen eines Strains für ein und dasselbe Symptom registriert und diese Daten in ein eigens entwickeltes Computersystem einspeist, erhält dies eine statistische Bedeutung und wiederum die Evidenz unterstützt, um die chemischen Profile der Medikamente mit den Symptomen in Zusammenhang bringt “, sagt Muroff.
Diese Ergebnisse können dann für weitere Studien genutzt werden. Bis man eine belastbare Studienlage hat, was laut Andrew zehn Jahre und länger dauern kann, ist diese Methode der Datensammlung und Aufbereitung der beste Weg, eine Evidenz zu schaffen. Außerdem hat Andrew angekündigt, dass es bald zusätzlich eine zytogenetische Untersuchung zum Aufspüren überlappender Gene geben wird. Interessante und ungeahnte Möglichkeiten stecken in dieser fortschrittlichen Art der Analyse. Da ich natürlich weiß, dass euch alle unheimlich interessiert hat, welche Strains genutzt werden und Andrew uns diesen Zahn gerade gezogen hat, fragte ich ihn nach den häufigsten Anwendungsgebieten. Zum Beispiel haben über 3000 Patienten ihr Konsummotiv mit Schlafstörungen angegeben und wurden mit 60.000 Einnahmen registriert.
So können die Experten sehen, welche Produktprofile am besten bezogen auf Alter und Geschlecht funktionieren. Natürlich wollte ich mir selbst ein Bild der App machen und musste feststellen, dass ich sie in Deutschland leider nicht herunterladen kann. Also fragte ich ihn, wo die App denn überall nutzbar sei. Momentan sei die App für alle Patienten Nordamerikas verfügbar. Die meisten Daten kämen aber nach wie vor aus Kanada. Dies läge daran, wie fortgeschritten das nationale Medical Cannabis Programm in Hinsicht auf Qualität und Einheitlichkeit der Labortests sei. Die App sei nur in einigen amerikanischen Staaten verfügbar, die die hohen Ansprüche der Kanadier erfüllen. Doch, und nun können wir alle aufatmen, Strainprint hat vor, eine spanische, portugiesische, hebräische und deutsche Version der App auf den Markt zu bringen und somit nach Europa und Lateinamerika zu expandieren.
Dies sei ihnen nur möglich, da sie die Produkte nach ihrem chemischen Profil zuordnen und eben nicht nach dem Namen eines Strains, welcher geändert werden könnte. Hier zählen einzig die im Labor verifizierten Inhaltsstoffe. Diese sind in der App schon voreingestellt, damit die Patienten sich um diesen komplexen und wissenschaftlichen Schritt nicht mehr sorgen müssen. Es wird gerade versucht, dafür ein Barcodesystem zu integrieren, was aber erst wirklich sinnvoll wird, wenn die Barcode-Industrie standardisiert wird, was voraussichtlich 2021 geschehen soll. Abschließend kann man sagen, dass wir weltweit gesehen auf einem sehr guten Weg sind, was medizinisches Cannabis anbelangt. Besser spät als nie.