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Seit März 2017 kann Cannabis in Deutschland auf Rezept verschrieben werden, sofern zwei Bedingungen zutreffen: Eine bereits etablierte Standardtherapie versagt und kann aus bestimmten Gründen nicht verabreicht werden und es besteht Aussicht auf eine spürbare Verbesserung der Erkrankung.
Beide Bedingungen treffen primär bei autoimmun entzündlichen Erkrankungen wie rheumatoider Arthritis, Multipler Sklerose, Morbus Crohn, aber auch bei chronischen Schmerzen zu. Und hier liegt leider auch der Knackpunkt: Cannabis ist zwar zugelassen, jedoch ohne klinische Studien wie sonst bei neuen Arzneimitteln und nicht für eine spezielle Indikation (mit Ausnahme der Multiplen Sklerose). Daher ist eine Kosten/Nutzen Abwägung für den behandelnden Arzt schwierig, zumal die Wirkung im Speziellen auf Entzündung unzureichend untersucht ist. Daher ziert sich die Ärzteschaft bisher, Cannabis zu verschreiben und Patienten müssen oft Ärztehopping betreiben, bis sie das Rezept erhalten. Grund hierfür ist meist mangelnde Kenntnis über die Wirkungsweise von Cannabis, dem oft noch das frühere Drogenimage anhaftet. Doch was vermag die Substanz zu leisten? Kann Cannabis bei chronischen Entzündungen überhaupt Linderung verschaffen?
Körpereigene Cannabinoide unterdrücken Schmerz
Körpereigene Cannabinoide (Endocannabinoide) werden im Körper unter bestimmten Voraussetzungen gebildet, aber normalerweise rasch wieder abgebaut, sodass sich keine Cannabis-typische Wirkung entfalten kann. Es gibt jedoch Menschen, denen das Enzym für diesen Abbau fehlt und dabei reichern sich bestimmte Endocannabinoide an. Dies führt zu erstaunlichen physiologischen Veränderungen, wie die Betroffene Jo Cameron berichtet. Sie hat eine Schwäche für die extrem scharfen Scotch Bonnet Chili Schoten, die bei ihr lediglich ein „kurzes, angenehmes Glühen im Mund“ auslösen.
Sie wurde aufgrund einer schweren Hüftarthrose ins Krankenhaus eingeliefert, berichtete vor und nach der Operation aber von keinen Schmerzen, hatte bis dahin auch noch nie Schmerzmittel eingenommen, und ist stets vergnügt und glücklich. Verletzungen heilen bei ihr rasch und ohne Narbenbildung aus. Der einzige Wehrmutstropfen dabei ist womöglich der Einfluss auf das Kurzzeitgedächtnis, denn Cameron hat oft Wortfindungsprobleme oder vergisst ihren Wohnungsschlüssel. Sie zeigt damit, dass körpereigene Cannabinoide zumindest zwei verschiedene Zielstrukturen haben: Dies ist zum einen der Chili Rezeptor (TRPV1), der wichtig für die Entstehung und Weiterleitung von Schmerzen ist, zum anderen der Cannabinoid Rezeptor 1 (CB1) im Gehirn, der unter anderem für die Regulation des Kurzzeitgedächtnisses verantwortlich ist, aber auch schmerzlindernd wirkt.
Kann Cannabis das auch?
Zumindest teilweise. Eine Umfrage in England bei Patienten mit chronischen Erkrankungen ergab, dass etwa 18 % dieser Cannabis zur Linderung ihrer Symptome einsetzen. Allerdings hatten diese Patienten bereits vorher Kontakt mit medizinischem Cannabis und waren daher mit der Wirkung vertraut. Von diesen Patienten berichteten 95 % eine sehr gute bis mäßige Wirkung von Cannabis bei Behandlung ihrer Grunderkrankung. Fragt man Patienten, wie sich das Befinden nach einer Cannabis-Therapie geändert hat, hört man oft, dass es „die Krankheit erträglicher macht“, ohne genau definieren zu können, warum. Dies liegt nicht zuletzt an der zumindest teilweise unterschiedlichen Wirkungsweise des körpereigenen Cannabinoidsystems und Cannabis.
Wie wirkt Cannabis?
Cannabis besteht aus mehr als 500 verschiedenen Substanzen, darunter etwa 100 als Cannabinoid klassifizierte Verbindungen, die alle ein unterschiedliches Wirkspektrum besitzen. Hauptbestandteile sind aber das psychotrope Tetrahydrocannabinol (THC) und Cannabidiol (CBD), dem viele der therapeutisch wirksamen Effekte zugeschrieben werden. Ähnlich den körpereigenen Cannabinoiden kann THC den CB1 Rezeptor aktivieren, was dosisabhängig zu ähnlichen Effekten führt, wie erhöhte Spiegel an Endocannabinoiden.
Darunter zählen neben dem oben beschriebenen Effekt auf das Kurzzeitgedächtnis auch Stimulation des Appetits, verbesserte Stimmung und reduzierte Schmerzwahrnehmung. Ein wichtiger Unterschied zum Endocannabinoid-System besteht allerdings: THC und auch CBD können zwar wie Endocannabinoide auch den Chili Rezeptor binden und dessen Funktion blockieren, jedoch wären dafür sehr viele höhere Dosen nötig als die, die man typischerweise als medizinischer Cannabis-Patient konsumiert. Im Gegensatz dazu binden Endocannabinoide sehr viel besser an den Chili Rezeptor und haben deshalb eine stärkere und lang anhaltende Wirkung. Obwohl THC über den CB1 Rezeptor indirekt Schmerz reduzieren kann, bleibt der Hauptakteur (Chili Rezeptor) unangetastet oder wird sogar positiv beeinflusst.
Dies rührt daher, dass CB1 die Aktivität des Chili-Rezeptors zu Beginn der Therapie reduziert, was in geringerem Schmerz resultiert. Bei chronischem Gebrauch oder Absetzen von Cannabis kommt es jedoch zum umgekehrten Fall und der Schmerz nimmt zu. Neben dem CB1 Rezeptor gibt es noch einen zweiten Cannabinoid Rezeptor (CB2) im Körper, der hauptsächlich auf Immunzellen zu finden ist und dem die antientzündliche Wirkung von Cannabis zugeschrieben wird. Allerdings wurde in genetisch veränderten Tieren, die kein CB2 tragen, dieselben THC Effekte auf das Immunsystem festgestellt wie in „normalen“ Tieren, was eine Beteiligung des Rezeptors bei der Cannabiswirkung fraglich macht.
Noch komplexer stellt sich die Situation mit dem zurzeit gehypten Wirkstoff CBD dar, denn dieser wirkt an mindestens acht verschiedenen Zielstrukturen im Körper, die Entzündung und Schmerz unterschiedlich beeinflussen können. Bei CBD sind zudem hohe Dosen für einen Therapieerfolg notwendig, was bei frei verkäuflichen Ölen, Kaugummis etc. bedeutet, dass man ganze Packungen konsumieren müsste, um wirksame Konzentrationen zu erreichen. CBD hat jedoch den Vorteil, sehr nebenwirkungsarm zu sein und es zeigt zumindest in Tiermodellen für verschiedene chronische Leiden einen guten Therapieerfolg.
Für THC gibt es keine klinischen Daten in Bezug auf Entzündungsprozesse. Es ist aber davon auszugehen, dass mit Cannabis zwar verschiedene Symptome gelindert werden können, die Grunderkrankung davon jedoch meist unangetastet bleibt.
Für wen ist Cannabis geeignet?
Obwohl THC vermutlich nicht das Krankheitsgeschehen direkt moduliert, kann es doch verschiedene Symptome, die mit einer chronischen Erkrankung einhergehen, positiv beeinflussen. Dies ist für viele Patienten oft wichtiger als die Krankheit selbst, denn nach Befragungen geben viele z. B. schlechte Schlafqualität als einen der wesentlichen belastenden Faktoren an. Gerade diese sogenannten Komorbiditäten wie Schlaflosigkeit, Verlust von Appetit, Blutdruckprobleme, Adipositas, Depression etc. sind es, die oft das Leiden der Patienten maßgeblich beeinflussen. Cannabis kann nun viele dieser Komorbiditäten positiv modulieren, was für viele Betroffene die Lebensqualität entscheidend steigern kann.
Etwas besser könnte die Situation bei Cannabis mit hohem CBD Anteil aussehen, da dadurch CBD Konzentrationen im therapeutischen Bereich erreicht werden können. Obwohl die Wirkung von CBD wie oben beschrieben nicht geklärt ist, weiß man um den antientzündlichen Effekt in höheren Dosierungen. Aufgrund des guten Nebenwirkungsprofils von CBD sollte ein erster Therapieversuch mit Cannabis mit hohem CBD Gehalt und niedrigem oder keinem THC erfolgen.
Dies deckt sich auch mit den Richtlinien aus Kanada bei rheumatoider Arthritis, die ebenfalls zu geringer THC Dosierung raten. Sollte sich nach einigen Wochen keine Besserung einstellen, kann mehr THC gegeben werden. Vorsichtig sollte man bei THC sein, wenn psychiatrische Erkrankungen, Herzprobleme oder Allergien vorliegen, denn diese können durch THC verschlimmert werden.