Beim Wort Cannabinoide denken die meisten Menschen vermutlich zunächst an die klassischen Vertreter dieser Stoffgruppe wie THC und CBD, welche im Hanf vorkommen. Es gibt nicht nur im Hanf noch 100 weitere Cannabinoide, sondern es existieren auch abseits vom Hanf eine ganze Reihe weiterer Pflanzen, die Cannabinoide enthalten. Substanzen also, die am CB1- und CB2-Rezeptor des Endocannabinoidsystems wirken, oder eine strukturelle Ähnlichkeit zu den im Hanf enthaltenen Cannabinoiden aufweisen. In Pflanzen vorkommende Cannabinoide werden auch unter dem Überbegriff „Phytocannabinoide“ subsumiert. Obwohl die allermeisten derzeit bekannten Phytocannabinoide keine derart starke psychoaktive Wirkung wie THC aufweisen, ist diese Tatsache dennoch sehr interessant, dass diese Stoffgruppe auch abseits vom Hanf in der Natur vertreten ist, was darüber hinaus auch dazu beitragen könnte, dem Hanf teilweise seine Stigmatisierung zu nehmen. Denn bei näherer chemischer Betrachtung zeigt sich, dass seine Wirkstoffklasse weitaus häufiger um uns herum vorkommt, als man vermuten möchte.
Eine der beachtenswertesten pflanzlichen Vertreter ist die Moosgattung Radula. Insbesondere die Untergattungen Radula complanata und Radula marginata enthalten Cannabinoide, die auch eine mäßige psychoaktive Wirkung entfalten können. In der genannten Moosgattung sind die Cannabinoide Perrottetinene und Perrottetin-Säure welche eine leichte THC-ähnliche Wirkung haben, enthalten. Es wird davon ausgegangen, dass diese Inhaltsstoffe etwa 25–50 Prozent der Potenz von THC aufweisen. Die Perrottetin-Säure ist strukturell mit Delta-9-THC verwandt, außerdem wirken beide Substanzen am CB1-Rezeptor, woraus sich die THC-ähnliche Wirkung ergibt. Für Europa am interessantesten ist Radula complanata, auch bekannt unter dem Trivialnamen „Gewöhnliches Kratzmoos“. Diese Moosgattung ist in Wäldern Mitteleuropas zu finden, primär an Bäumen, besonders auf Buchen, aber auch in der Nähe von Bächen. Die verwandte Gattung Radula marginata kommt in Neuseeland vor und weist ein ähnliches Wirkstoffprofil auf. Ferner gibt es noch Radula perrottetii welches in Japan vorkommt und Radula laxiramea welches in Mittelamerika heimisch ist und ebenfalls die beschriebenen Inhaltsstoffe aufweist.
Neben den eingangs erwähnten cannabinoidhaltigen Moosen, gibt es auch Flechten, die diese Wirkstoffgruppe aufweisen, oder zumindest chemisch nahe verwandte Vorstufen davon. Besonders interessant ist an dieser Stelle die Gattung Pseudevernia furfuracea, auch bekannt unter dem Trivialnamen „Baummoos“. Diese Flechte enthält Olivetolsäure. Zwar ist Olivetolsäure selbst noch kein CB1- oder CB2-Agonist und daher noch kein Cannabinoid im engeren Sinne, jedoch spielt Olivetolsäure in der Hanfpflanze eine zentrale Rolle im Syntheseweg von THC. Olivetolsäure wird zuerst zu Dibenzopyran umgewandelt, daraus entstehen in weiterer Folge einer Reihe von Cannabinoiden, unter anderem das THC und das ebenfalls psychoaktive Hexahydrocannabinol (HHC), welches in Spuren im Hanf vorkommt. Diese Flechte ist in ganz Europa weitverbreitet und ist vorwiegend auf Nadelbäumen zu finden. Daneben gibt es noch eine zweite in Europa weitverbreitete Flechte, die ebenfalls Olivetol enthält, nämlich die Gattung Hypogymnia physodes auch bekannt als Blasenflechte. Diese ist sehr häufig sowohl auf Laub- als auch Nadelbäumen anzutreffen.
In den vergangenen Jahren wurde eine Orchidee mit dem Namen Dendrobium nobile immer bekannter, deren Inhaltsstoffe offenbar ebenfalls eine deutliche Affinität zu den Cannabinoidrezeptoren aufweisen. Ihre wichtigsten Inhaltsstoffe sind Nobilin, Nobilonin und Nobilomethylen, welche mehreren Bioessays zufolge eine Wirkung erzeugen, welche jener von THC nicht unähnlich ist. Dendrobium nobile stammt ursprünglich aus China und hat in der chinesischen Medizin eine lange Tradition als Heilpflanze. In Europa ist Dendrobium nobile eine der beliebtesten Zierpflanzen, welche sich in vielen Haushalten und Büros auf der Fensterbank findet, ohne dass deren cannabisähnliche psychoaktive Wirkung in der breiten Masse bekannt ist. Die ebenfalls aus der chinesischen Medizin stammende Pflanze, Magnolia officinalis, enthält die Cannabinoide Homokiol und Magnolol. Zwar ist diese Pflanze im Gegensatz zu Dendrobium nobile nicht psychoaktiv, jedoch zeigen beide Cannabinoide eine leichte Bindungsaffinität sowohl am CB1- als auch am CB2-Rezeptor.
Sehr interessant ist auch die Tatsache, dass schwarzer Pfeffer, lateinisch Piper nigrum, Cannabinoide enthält. Es handelt sich hierbei um das Cannabinoid beta-Caryophyllen. Jedoch hat dieses Cannabinoid keine psychoaktive Wirkung, zumindest nicht direkt. Allerdings kann es, ähnlich wie CBD, die Wirkung von THC abschwächen, indem es selektiv am CB2-Rezeptor wirkt. Die typischen Nebenwirkungen von einer zu hohen Dosis THC, wie Herzrasen und Angstgefühle, können durch beta-Cariophyllen ähnlich effektiv gelindert werden, wie durch CBD. Beta-Cariophyllen kommt nicht nur im schwarzen Pfeffer vor, sondern ist auch im Hanf enthalten. Es gibt sogar spezielle Hanfsorten, welche gezielt einen höheren Gehalt an beta-Cariophyllen aufweisen, um neben dem Gehalt an CBD, den entspannenden Effekt dieser Sorte weiter zu erhöhen. Neben dem Pfeffer und dem Hanf lässt sich dieses spezielle Cannabinoid auch unter anderem im Hopfen finden. Hopfen und Hanf sind genetisch miteinander verwandt und gehören zur botanischen Familie der Cannabaceae. Die genetische Verwandtschaft von Hanf und Hopfen, lässt einmal mehr die Frage aufwerfen, warum Hanf stigmatisiert wird, während Hopfen ein fester Bestandteil unserer Kultur ist und niemand auf die Idee kommen würde, dies infrage zu stellen. Spuren von beta-Cariophyllen lassen sich selbst in Küchengewürzen wie Oregano, Rosmarin oder Zimt nachweisen.
Selbst im heimischen Garten finden sich cannabinoidhaltige Pflanzen, wie der Rote Sonnenhut (Echinacea purpurea). Der Rote Sonnenhut enthält Alkylamine, die am CB2-Rezeptor wirken. Auch wenn Alkylamine keinerlei psychoaktive Wirkung haben, zählen sie aufgrund der Tatsache, dass sie am CB2-Rezeptor andocken können, zu den Cannabinoiden. Cannabinoide weisen nicht nur psychoaktive Eigenschaften auf, sondern haben auch eine Vielzahl medizinischer Qualitäten, wie es beispielsweise bei den Alkylaminen im Roten Sonnenhut der Fall ist. Indem diese an den CB2-Rezeptor andocken, kann der Entzündungsbotenstoff TNF-Alpha blockiert werden. Aus diesem Wirkungsmechanismus scheint sich die entzündungshemmende Wirkung vom Roten Sonnenhut abzuleiten. CB2-Rezeptoren befinden sich nicht nur im Gehirn, sondern in zahlreichen weiteren Regionen des Körpers, wie auch auf Immunzellen, auf denen sie eine wichtige Rolle beim Transport von Entzündungsbotenstoffen haben.
Cannabinoide, wie Alkylamine, können in diesen Prozess gezielt eingreifen und auf diese Weise Entzündungen stoppen. Des Weiteren finden sich im Garten sogar in der Möhrengattung Daucus carota Cannabinoide. In dieser Möhre ist das Cannabinoid Falcarinol enthalten. Dieses wäre sogar ein CB1-Agonist, jedoch ist seine Bindungsaffinität so gering, dass sich in diesem Fall keine psychoaktive Wirkung entfaltet. Falcarinol stellt eine Sonderform bei den Phytocannabinoiden dar. Es ist chemisch eigentlich ein ungesättigter Alkohol, der aber gleichzeitig eine leichte Affinität an den Cannabinoidrezeptoren zeigt. Die Gartenraute, Ruta graveolens ist ebenfalls eine häufig vertretene Zierpflanze in heimischen Gärten, in welcher das Cannabinoid Rutamarin enthalten ist. Bei Rutaramin handelt es sich um einen selektiven CB2-Agonisten ohne bisher bekannter psychoaktiver Wirkung.
Die Gemeine Wegwarte, Cichorium intybus, ist eine weitere in ganz Europa sehr häufig vorkommende Pflanze, die ebenfalls Cannabinoide enthält. In dieser Pflanze konnte das Cannabinoid 28-beta-Hydroxytaraxasterol nachgewiesen werden, welches eine mäßige Affinität am CB1-Rezeptor zeigt. Über eine psychoaktive Wirkung dieses Cannabinoids ist aktuell nichts bekannt, jedoch ist sie für ihre medizinische Verwendung bekannt und war 2020 in Deutschland die Heilpflanze des Jahres. Wie bereits erwähnt, müssen sich die Wirkungen von Cannabinoiden nicht zwingend in einem psychoaktiven Effekt bemerkbar machen.
Eine südafrikanische Strohblumenart mit dem Namen Helichrysum umbraculigerum enthält elf verschiedene Derivate von Resorcinol. Diese sind strukturell nah verwandt mit dem im Hanf vorkommenden Cannabigerol, auch als CBG bekannt. Zwar sind diese Cannabinoide ebenfalls nicht psychoaktiv, jedoch eine weitere erstaunliche Tatsache, die aufzeigt, wie chemisch nahe verwandte Vertreter, die man in der Regel nur aus dem Hanf kennt, sich auch in weiteren Pflanzen finden lassen.
Wie diese Beispiele zeigen, sind Cannabinoide also keineswegs nur auf den Hanf beschränkt, sondern lassen sich in zahlreichen weiteren Pflanzen finden, von denen hier nur einige der wichtigsten genannt wurden, in denen sich Cannabinoide in nennenswerten Mengen feststellen lassen. Es kann davon ausgegangen werden, dass in den kommenden Jahren noch in zahlreichen weiteren Pflanzen Cannabinoide entdeckt werden. Einige von denen könnten medizinisches Potenzial besitzen, da Cannabinoide im menschlichen Körper an zahlreichen Prozessen beteiligt sind, und sich CB1- und CB2-Rezeptoren in fast allen Regionen des Körpers befinden.