Auch in der menschlichen Netzhaut befinden sich Cannabinoidrezeptoren. Ebenso haben viele Cannabinoide entzündungshemmende, neuroprotektive und antioxidative Eigenschaften, also genau die Art von Wirkungen, die auf biochemische Vorgänge einwirken, wie sie bei einigen Netzhauterkrankungen gegeben sind.
Es liegt daher die Vermutung nahe, dass Cannabinoide einen hohen therapeutischen Wert bei der Behandlung von Netzhauterkrankungen haben könnten. Die Standardtherapie in der Schulmedizin ist bis heute die IVOM-Therapie, bei der sogenannte VEGF-Blocker ins Auge injiziert werden, um degenerative Prozesse zu stoppen oder zu verlangsamen. Es gibt jedoch schon seit mehreren Jahren Untersuchungen, die Grund zu Hoffnung geben, dass hier in Zukunft auch Cannabinoide zu einer weiteren Verbesserung führen könnten.
Wirkung von Cannabis bei Augenerkrankungen seit Jahrzehnten bekannt
Es ist bereits seit den 1970er-Jahren bekannt, dass Cannabis ein wirksames Mittel gegen Glaukom ist. Beim Glaukom oder auch grünem Star, handelt es sich um eine relativ häufige Erkrankung, die zu Sehverlust führen kann und bei der die Netzhaut durch einen zu hohen Augeninnendruck geschädigt wird. THC senkt nachweislich den Augeninnendruck. In vielen liberaleren Ländern, wie einigen US-Staaten, ist Glaukom auch schon eine anerkannte Indikation, um Cannabis auf Rezept verordnet zu bekommen. Neben einem erhöhten Augeninnendruck gibt es noch weitere Erkrankungen, bei denen die Ursache direkt von degenerativen Prozessen der Netzhaut ausgeht.
Da die neuroprotektive Wirkung von Cannabinoiden schon aus anderen Körperregionen bekannt ist, liegt die Vermutung nahe, dass dieser Effekt auch auf die Netzhaut übertragbar sein könnte. Zu diesem Thema gibt es nun eine erste Studie, die an der Hebräischen Universität in Israel, die im Jahr 2018 gestartet wurde. 25 freiwillige Patienten mit der degenerativen Erkrankung Retinitis pigmentosa erhalten dort regelmäßig CBD und THC im Verhältnis 1:40. Es wird regelmäßig die Sehkraft und der strukturelle Zustand der Netzhaut untersucht. Die Ergebnisse wurden noch nicht veröffentlicht, doch es ist ein erster Schritt in die richtige Richtung, dass dieser mögliche hohe therapeutische Nutzen von der Schulmedizin untersucht wird.
Frühere Spice-Zutat als aussichtsreichster Kandidat
Die mit Abstand vielversprechendste Wirkung scheint das synthetische Cannabinoid HU-210 zu haben. HU-210 wurde das erste Mal 1988 an der Hebräischen Universität in Israel synthetisiert, woraus sich auch die Abkürzung „HU“ herleitet. Unter der Leitung von Raphael Mechoulam wurden in den 1980er-Jahren an der hebräischen Universität zahlreiche neuartige Cannabinoide synthetisiert, mit dem Ziel, mögliche medizinische Eigenschaften, die man von natürlichen Cannabinoiden aus dem Hanf kennt, selektiver und stärker einzusetzen. Die synthetisierten Cannabinoide wurden fortlaufend nummeriert. Bei HU-210 handelt es sich um ein Cannabinoid, welches 100 Mal so potent ist, wie das natürliche THC aus dem Hanf.
HU-210 geriet zunächst wieder in Vergessenheit und hatte vorläufig keine weitere Verwendung. Viele Jahre später, im Jahr 2007, wurde HU-210 dann weltweit bekannt, als das Cannabisersatzprodukt Spice am Markt erschien. In Spice war unter anderem HU-210 enthalten, da dieses Cannabinoid so unbekannt war, dass es in keinem Gesetz als verboten gelistet war und somit legal verkauft werden konnte. Der Staat reagierte rasch mit einem Verbot und kurze Zeit später mit dem sogenannten Neue psychoaktive Substanzen Gesetz, welches solche Substanzen und ganze Stoffgruppen verbieten sollte. Doch dies funktionierte nicht, wie erwartet, sondern das Gegenteil ist der Fall, denn heute gibt es mittlerweile tausende neue Cannabinoide und mit jedem Verbot kommen weitere hinzu, die durch kein Gesetz erfasst sind.
HU-210 wirkt aber nicht nur stark berauschend, sondern eine Studie aus dem Jahr 2014, die vom niederländischen Forschungszentrum Elsevir durchgeführt wurde, kam zu dem Schluss, dass HU-210 die Degeneration der Netzhaut bei verschiedenen Erkrankungen verlangsamen oder stoppen kann. HU-210 blockiert genau die entzündlichen und oxidativen Stoffwechselprozesse, die bei Netzhauterkrankungen, insbesondere bei der Erkrankung Retinitis pigmentosa, für den fortschreitenden Abbau der Netzhaut und des damit einhergehenden Sehverlustes verantwortlich sind.
Anhand von Zellmodellen, bei denen die entsprechenden degenerativen Prozesse simuliert wurden, konnte gezeigt werden, dass trotz degenerativer Prozesse bis zu 40 % der Sinneszellen erhalten bleiben. Es zeigte sich auch, dass HU-210 mechanische Schäden in der Netzhaut blockieren kann, wie sie zum Beispiel bei Schäden durch Diabetes oder bei altersbedingter Makuladegeneration auftreten. Zwar ist eine Studie am Menschen derzeit noch ausständig, doch die vorliegenden Ergebnisse legen ein hohes therapeutisches Potenzial von HU-210 für diesen Zweck nahe.