Behind the Scenes der Cannabis-Pharmabranche
Durch das Jahrzehnte währende Verbot von Cannabis konnte sich das Wissen um die Pflanze nicht in dem Maße entwickeln, wie das vor dem Hintergrund einer liberaleren Gesetzgebung möglich wäre. Trotzdem haben viele Menschen auch in dieser Zeit Gebrauch von Cannabis gemacht, ob im Rahmen der Freizeitgestaltung oder in der Nutzung als Hausmittel zur Selbstmedikation. Wenn man allerdings sein Cannabis nicht selbst angebaut hat, konnte man die Qualität eigentlich nicht einschätzen, jedenfalls nicht über die individuellen Fähigkeiten von Nase und Augen hinaus. Die Wenigsten haben immer gewusst, wo ihr Cannabis herkommt, unter welchen Bedingungen es angebaut wurde, und wie damit nach der Ernte umgegangen wurde. Nach Inkrafttreten des Cannabis als Medizin Gesetzes im März 2017 hat sich dies zumindest für viele Patienten geändert.
In dem Moment, in dem Arzt und Patient eine Cannabisblüte aus der Apotheke auswählen, sind ihnen schon einige Details zum jeweiligen Medikament bekannt, etwa der Kultivar Name, in vielen Fällen auch die Anbauregion, und auf jeden Fall die Wirkstoffkonzentrationen von THC und CBD. Geht das Interesse eines Patienten noch weiter, so ist es ihm bei manchen Medizinalcannabisblüten auch möglich, Details wie die genetischen Vorfahren zu bestimmen, oder auch die Zusammensetzung der Terpene.
Viel tiefer gehen jedoch die Recherchen kaum, die ein Patient hinsichtlich seiner Medikamente durchführen kann, denn natürlich hüten die Hersteller und Importeure auch einige Informationen und geben nicht alles preis. Der Hersteller avaay Medical zeigt sich in seiner Arbeit sehr transparent und hat uns schon in der Vergangenheit gelegentlich einen Blick hinter die Kulissen gewährt, zum Beispiel in Videos mit dem bekannten Cannabis YouTuber und Journalisten Micha Knodt.
Im Dezember 2021 hat avaay Medical mit Gorilla Glue seine erste Medizinalcannabisblüte auf den Markt gebracht. In Kooperationen mit acht verschiedenen Anbauunternehmen wurden mittlerweile über zehn Sorten gelauncht, und weitere Markteinführungen sind in Vorbereitung. Für das Scouten neuer Strains war avaay in 16 Ländern unterwegs und hat sich 233 potenzielle Kandidaten angeschaut.
Da es selbstverständlich noch so viel mehr Spannendes über die Hintergründe der Produktion von medizinischem Cannabis zu erfahren gibt, stand avaay Medical uns mit zwei Mitarbeitern für diese Reportage zur Verfügung.
Vor den Einzelinterviews mit den beiden Experten von avaay Medical, stellen wir die Interviewpartner Dr. Kaeli Zimmermann und Tim Dresemann kurz vor:
Dr. Kaeli Zimmermann:
Dr. Kaeli Zimmermann beschäftigt sich beruflich seit etwa 10 Jahren mit dem Thema Cannabis. Nach dem Studium der Neurowissenschaften untersuchte sie im Rahmen ihrer Promotion am Universitätsklinikum Bonn mittels eines DFG-geförderten Projektes funktionale Veränderungen des Gehirns bei Cannabiskonsum und Cannabisabhängigkeit. Von 2018 bis 2020 war sie maßgeblich am Aufbau des Bereichs Medical Affairs in verschiedenen Cannabis-Startups beteiligt. Nach einer kurzen Exkursion als klinische Assessorin für die Prüfung von Marktzulassungen im BfArM, leitet sie seit Januar 2023 die Medical Science Abteilung bei Vayamed. Im Rahmen dieser Tätigkeit verantwortet sie eine Vielfalt an Aufgaben, mitunter die wissenschaftliche Erstellung und Prüfung von Produktinformationen, die Beratung von Ärzt:innen und Apotheker:innen, die Umsetzung von Schulungsformaten zum Thema Medizinalcannabis sowie die Entwicklung von Produktinnovation.
Hanf Magazin: Du hast Dich auf dem Weg zur Dissertation unter anderem auch mit Cannabiskonsum und Cannabisabhängigkeit beschäftigt. Wenn Du also heute im Bereich Medizinalcannabis arbeitest, muss ich mutmaßen, dass die medizinischen Vorteile die Risiken überwiegen, richtig? Wie ordnest Du das Suchtpotenzial von Cannabis im Verhältnis zu anderen Substanzen ein, wie Alkohol oder auch verschreibungspflichtige Medikamente?
Kaeli: Meine Tätigkeit heute hängt sicherlich damit zusammen, dass ich vom therapeutischen Potenzial von Cannabis überzeugt bin, ja. Ob der Nutzen von medizinischem Cannabis den Risiken überwiegt, wird im Einzelfall am Patienten oder an der Patientin von den verschreibenden Ärzt:innen entschieden.
Zahlen der WHO schätzen das Abhängigkeitsrisiko von Cannabis bei etwa 9 %. Im Vergleich liegt Alkohol bei etwa 15 % oder Nikotin bei etwa 32 %. Diese Daten beziehen sich großteils auf den nicht medizinischen Markt. Nach der Begleiterhebung des BfArMs, welche zwischen 2017 und 2022 Daten der medizinischen Anwendung bei gesetzlichen Kassenpatient:innen in Deutschland erfasste, liegt die Abhängigkeit bei etwa 0,1 %. Das ist vergleichsweise niedrig. Es lässt sich demnach ableiten, dass unter ärztlicher Aufsicht das Risiko relativ gering ist.
Es gibt einige Wissenschaftler:innen, die versuchen anhand objektiver Kriterien die Schädlichkeit verschiedener Substanzen messbar zu machen, um somit eine Vergleichbarkeit zu ermöglichen. Ziel ist es rationale Ansätze in der Drogenpolitik zu unterstützen, aber auch die Pharmakotherapie für Patient:innen zu verbessern. Mit diesem Ansatz wurden in einer aktuellen Publikation Cannabinoide mit üblichen Schmerzmedikamenten bezüglich ihres Nutzen-Risiko-Profils verglichen (Nutt et al., 2022). Die Cannabinoidtherapie schnitt hier deutlich besser ab.
Hanf Magazin: Du hast als klinische Assessorin für die Prüfung zu Marktzulassungen im Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) gearbeitet. Vielen Patient:innen ist diese Behörde natürlich ein Begriff, doch eigentlich weiß man gar nicht so viel darüber. Wie ist das BfArM aufgebaut? Geht man dort mit Cannabis eher restriktiv um und hat gar nicht so gern mit der Pflanze zu tun, oder läuft da alles sehr sachlich und neutral ab?
Kaeli: Mit der Einführung des Gesetzes „Cannabis als Medizin“ 2017 wurde die Cannabisagentur als Sparte des BfArM ins Leben gerufen und verantwortet den kontrollierten Anbau von medizinischen Cannabisblüten in Deutschland vom Anbau bis hin zur Lagerung, Verpackung und Abgabe an die Apotheken. Ich selbst unterstützte als Assessorin die Prüfung der Zulassungsanträge von Fertigarzneimitteln, was in einem anderen Bereich angesiedelt war. Das BfArM setzt seine Arbeit nach klar definierten Richtlinien um. Anhand standardisierter Kriterien wird der gesundheitliche Nutzen eines Arzneimittels geprüft, um das Patient:innenwohl zu sichern.
Hanf Magazin: Seit Beginn des Jahres leitest Du die Medical Science Abteilung bei Vayamed und avaay Medical und hast dabei auch viel mit Ärzt:innen und Apotheker:innen zu tun. Wir wissen, dass in der Vergangenheit viele Vertreter:innen dieser Berufe Vorbehalte gegen das Arbeiten mit Cannabis hatten, teilweise ist das auch heute noch so. Glaubst Du, dass die Entkriminalisierung von Cannabis als Genussmittel die Zweifel und Skepsis besänftigen kann? Oder wird das erst der Fall sein, wenn Cannabis nicht mehr per Btm-Rezept verordnet werden muss, und wenn die Krankenkassen bei der Kostenübernahme nicht mehr mitreden dürfen?
Kaeli: Die Skepsis verschiedener Personen in Heilberufen kann unterschiedliche Gründe haben. Dazu gehören neben Stigmata mitunter praktische Hürden und Unsicherheiten bei der Verschreibung. Diese Vorbehalte können nur durch regulatorische Erleichterungen bei der Verschreibung und Kostenübernahme, verstärkte Aufklärungsarbeit und mehr qualitativ hochwertige Studien weniger werden. Um die Auswirkungen der Entkriminalisierung oder der Streichung von Cannabis aus dem Betäubungsmittelgesetz abzuschätzen, lohnt sich ein Blick in andere Länder. Dort sieht man, dass eine restriktive Drogenpolitik und strengere Kriminalisierung von Cannabis mit höheren Stigmata in Verbindung steht. Wir vermuten, dass eine Entkriminalisierung mit der Zeit zu einer größeren gesellschaftlichen Akzeptanz führen kann. Folglich könnte auch mit mehr Offenheit gegenüber der medizinischen Anwendung gerechnet werden – bei Ärzt:innen und Apotheker:innen.
Hanf Magazin: Zu Deinen Aufgaben bei avaay gehört auch die wissenschaftliche Erstellung und Prüfung von Produktinformationen. Wie kann man sich das vorstellen? Bekommst Du ein neues Produkt mit einigen Angaben vom Hersteller, zum Beispiel Kultivarname und einige Informationen über die Wirkstoffzusammensetzung, und machst dann Laboranalysen?
Kaeli: Meine Arbeit beginnt nach den Laboranalysen. Um Ärzt:innen und Apotheker:innen beim Umgang mit medizinischem Cannabis zu unterstützen, bieten Vayamed und avaay Medical Informationsmaterialien an. Hieraus können produktspezifische Angaben entnommen werden, wie die Konzentration der Cannabinoide und Terpene. Aber auch Hintergrundinformationen zu den Kultivaren und zu den Anbauern sind dort zu finden. Ferner geben wir allgemeine Hinweise zur Anwendung von medizinischem Cannabis an Fachkreise ab, welche praxisnahe Informationen beinhalten, wie den Zeitpunkt des Wirkungseintritts, die Wirkdauer und Dosierbeispiele. Mein erfahrenes Team bereitet die Inhalte basierend auf wissenschaftlichen Daten und Laboranalysen auf und stellt sicher, dass kommunizierte Inhalte konform mit den Vorgaben des Arzneimittelgesetzes und des Betäubungsmittelgesetzes sind.
Hanf Magazin: Da Cannabisblüten pflanzlicher Natur sind, beeinflussen verschiedene Faktoren das Wachstum, den Reifeprozess und damit auch qualitative Merkmale und Wirkstoffkonzentrationen. Das ist einer der Gründe, warum Blüten schon des Öfteren als „Steinzeitmedizin“ und damit als nicht zukunftsfähig bezeichnet wurden. Wie siehst Du das? Wird es in zwanzig oder fünfzig Jahren noch Cannabisblüten von avaay geben, oder werden sie durch andere Darreichungsformen schon vollständig abgelöst worden sein?
Kaeli: Medizinische Cannabisblüten haben ihre Daseinsberechtigung für den therapeutischen Einsatz und kommen durch das schnelle Anfluten der Wirkstoffe, insbesondere bei Schmerzspitzen zum Einsatz. Das ist heute so und wird auch in Zukunft notwendig sein. Die hohe Verordnungszahl von avaay Cannabisblüten und die Patient:innenzufriedenheit sprechen stark dafür, dass diese Produkte einen positiven therapeutischen Einfluss haben.
Es könnte sein, dass durch verstärkte Forschung und Entwicklung zukünftig neue Darreichungsformen hinzukommen. Durch die Entwicklung neuer Formulierungen kann noch mehr Patient:innen der Zugang zur Therapie mit Cannabisarzneimitteln ermöglicht werden. Warum ist das so? Zum einen gibt es Patient:innen, welche aufgrund des Krankheitsprofils keine Cannabisblüten einnehmen können, aber von einer Therapie mit Cannabinoiden oder sekundären Pflanzenwirkstoffen profitieren könnten. Zum anderen können neue Darreichungsformen, die in Zukunft potenziell als standardisierte Fertigarzneimittel zugelassen sein könnten, mehr Ärzt:innen erreichen, die aktuell noch nicht offen gegenüber einer Therapie mit Cannabisarzneimitteln sind.
Hanf Magazin: Noch immer besteht in vielen Fällen ein Missverhältnis zwischen Ärzt:innen, die sich mit Cannabis nie beschäftigt hatten und daher über keinerlei Expertise verfügen, und Patient:innen, die sich viel besser damit auskennen. Bislang werden medizinischem oder pharmakologischem Fachpersonal innerhalb der normalen Ausbildungs- oder Studienzeit auch kaum Kenntnisse in diesem Bereich vermittelt. Können Unternehmen wie avaay Medical diese Last schultern und die entsprechenden Inhalte selbst in Schulungen an den Mann und die Frau bringen?
Kaeli: Avaay Medical bietet bereits Fortbildungen für Arzt:innen und Apotheker:innen an. Wir sehen ein großes Potenzial darin, durch diese Maßnahmen nicht nur mehr Patient:innen den Zugang zu einer Therapie zu gewähren, sondern auch die Qualität der Therapie mit medizinischem Cannabis zu steigern. In Zusammenarbeit mit Fachexpert:innen setzen wir verschiedene Lernformate zur Anwendung von Cannabis in der Medizin um und beraten in unserem Alltag umfangreich in Fachkreisen. Mit unseren avaay Medical Schulungen erzielen wir schon jetzt große Erfolge, indem Ärzt:innen praxisrelevante Informationen an die Hand gegeben werden. Aber es bedarf in jedem Fall einer Integration der Lehre über das Endocannabinoidsystem sowie der Potenziale einer Cannabinoidtherapie in der medizinischen Ausbildung, um die Wissenslücken weitflächiger und nachhaltiger zu schließen.
Quelle: Nutt, D. et al. A Multicriteria Decision Analysis Comparing Pharmacotherapy for Chronic Neuropathic Pain, including Cannabinoids and Cannabis-Based Medical Products. Cannabis and Cannabinoid Research. 7(4), 482-500 (2022).
Tim Dresemann:
Nachdem Tim Dresemann bereits in frühen Jahren großes Interesse an Cannabis gezeigt hatte, haben ihn erste heimische Anbauversuche dazu inspiriert, Agrarwissenschaften zu studieren. Im Studium fokussierte er sich auf Pflanzenproduktion, Pflanzenernährung, Bodenkunde sowie den Anbau von Arzneipflanzen. Angesichts der Illegalität der Cannabispflanze sammelte er seine ersten beruflichen Erfahrungen in anderen Sonderkulturen wie Kakao, Arznei-, Gewürz- und Aromapflanzen. Nach einer Phase der Forschung im organischen Landbau ist er nun seit 2018 in der Cannabisbranche tätig, und widmet sich dort nun seit einiger Zeit dem Thema Sourcing. In dieser Funktion sucht er weltweit nach neuen, spannenden Anbauern und nimmt Anlagen und Produkte potenzieller und bestehender Partner genauestens unter die Lupe. Seine Einschätzungen zu Aspekten wie Produkt- und Prozessqualität oder auch zur logistischen Reife eines Unternehmens bilden dann einen Teil der Entscheidungsgrundlage in diesem Bereich.
Auf diese Weise kann er seine Leidenschaft für Cannabis mit seinem agronomischen Hintergrund verbinden und arbeitet an der spannenden Schnittstelle zwischen traditionellem Wissen, moderner Forschung und einer noch jungen Industrie.
Hanf Magazin: Du hast Dich schon früh mit Cannabis, speziell auch mit dem Anbau, beschäftigt. Das hat Dich letzten Endes auch zum Studium der Agrarwissenschaften geführt. Gab es für Dich damals überhaupt eine Perspektive, dass Dich dieses Studium beruflich mit Cannabis verbinden könnte?
Tim: Jein – das kam letztlich darauf an, wie optimistisch man war. Das Berufliche war bei der Wahl meines Studiums auch noch gar nicht wirklich im Fokus. Mir ging es in erster Linie darum, einen Studiengang zu finden, der meinen Interessen entgegenkommt und mich zu einem tieferen Verständnis der Dinge befähigt, die im Anbau (von Cannabis, aber auch von anderen Kulturen) eine Rolle spielen. Und da ist ein solches Studium schon eine optimale Basis. Botanik, Physiologie, Pflanzenernährung, Bodenkunde, Agrartechnik und Pflanzenbau waren da etwa Bereiche, die gelehrt wurden. Später habe ich dann hauptsächlich zu organischem Anbau und Wurzelökologie geforscht. Mein Gedanke war immer: Falls es jemals die Möglichkeit gibt, mit Cannabis auch auf legale Weise Geld zu verdienen, dann will ich dafür möglichst gut vorbereitet sein.
Und schließlich: Die Perspektive selbst gibt und gab es ja immer – man muss sich nur gegebenenfalls die Frage stellen, ob und wie wichtig einem die Legalitätsfrage ist.
Hanf Magazin: Du bist gewissermaßen der erste Cannabis Sommelier, der in Deutschland für einen Medizinalcannabis-Importeur arbeitet. Das ist sicher für viele ein echter Traumberuf, nicht nur für Patient:innen. Wie war es für Dich, als Du diese Chance bei avaay Medical angenommen hast? Hattest Du Dich aktiv um solche Arbeit bemüht und danach gesucht, oder ist Dir das gewissermaßen in den Schoß gefallen?
Tim: In den Schoß gefallen ist mir das alles eher nicht, im Gegenteil: Ich habe an vielen Stellen in meiner „Laufbahn“ ganz bewusst Entscheidungen getroffen, die mich näher an Cannabis gebracht haben; oft zulasten anderer, teilweise sehr reizvoller Gelegenheiten. Eine Weile war mir offen gesagt auch selbst ziemlich unklar, wohin sich das ganze entwickeln würde.
Am Ende kam dann irgendwie alles zusammen: Es gab zu der Zeit eine generelle Bewegung hin zu mehr Engagement unsererseits entlang der Lieferkette – das hatte ich auch selbst mit angestoßen, da es auch in anderen Bereichen der Agrarwirtschaft eher normal ist, dort sehr nah dran zu sein. Dieser Aspekt wird natürlich umso wichtiger, je mehr es sich um die Qualität der Erzeugnisse dreht.
Andererseits reifte auch in der Branche endlich das Bewusstsein dafür, dass es bei Cannabis ein Verständnis von Qualität gibt, das sich jenseits des technisch geprägten pharmazeutischen Qualitätsbegriffes abspielt und sich eben nicht aus der Ferne nach Papierlage bewerten lässt.
Also ja, ich habe mich schon aktiv um diese Arbeit bemüht, war aber zu der Zeit auch bereits bei der Sanity Group tätig – als dann also der Startschuss fiel, ging eigentlich alles recht schnell …
Hanf Magazin: Wie viele andere auch, habe ich auf YouTube mitverfolgen können, wie Du mit Micha und Lennart einen Anbaubetrieb in Südafrika besichtigt hast. Ist solch eine Reise für Dich eher eine Ausnahme oder ist das schon Everyday Business? Wie sieht Dein Arbeitsalltag aus?
Tim: Erst mal schön zu hören, dass wir damit viele Leute erreichen können, denn es ist uns definitiv ein Anliegen auch den Anbauern, die ja in gewissem Sinne den wesentlichen Teil der Arbeit machen, die Möglichkeit zu geben, der Welt zu zeigen, was sie tun und wie sie es tun. Ich fand das schon immer unglaublich spannend und wir erleben zurzeit auch, dass es vielen so geht. Das ist wirklich schön zu sehen, denn diese Art der Wertschätzung für Erzeuger:innen ist in vielen anderen Bereichen längst verloren gegangen.
Solche Reisen sind für mich immer noch jedes Mal ein kleines Highlight. Aber regelmäßige Besuche sind wichtig! Ich sagte ja schon, dass wir den Anspruch an uns selbst haben, so nah am Geschehen zu sein, wie irgend möglich – und bei mittlerweile neun Anbaupartnern auf vier Kontinenten kommt da was zusammen.
Allerdings: Vor- und Nachbereitung der Besuche, die Vorselektion neuer potenzieller Partner und auch andere Projekte – wir stehen immerhin kurz vor einer … naja, so etwas Ähnlichem, wie einer Legalisierung und da machen wir uns natürlich so unsere Gedanken – nehmen viel Zeit in Anspruch. Und so gestaltet sich dann auch mein Arbeitsalltag … Sourcing, also die Suche nach spannenden neuen Kultivieren, die eine sinnvolle Ergänzung in unserem Portfolio darstellen, hört im Grunde nie auf – dafür ist die ganze Sache auch viel zu dynamisch; ständig gibt es neue Entwicklungen, neue Trends, Strains und auch Produzenten, die es sich lohnen könnte, zu besuchen oder auch nicht, das weiß man oft erst, wenn man wirklich vor Ort war.
Hanf Magazin: Aufgrund Deiner Expertise und Erfahrung hast Du vermutlich eine gute Sensorik dafür entwickelt, die Qualität eines Anbaus einzuschätzen. Kannst Du ein paar Details nennen, auf die Du besonders achtest, wenn Du für avaay eine Anlage besichtigst?
Tim: Ja, mittlerweile haben wir annähernd 60 verschiedene Facilitys besucht und da entwickelt man, glaube ich, schon einen relativ guten Blick dafür. Besonders wichtig sind mir zum Beispiel Dinge wie Sauberkeit und Hygiene, Kapazität, technische Ausstattung, die Kulturführung und Abläufe, die so stabil und gut durchdacht sind, dass sich eine gewisse logistische Reife ableiten lässt.
Das ist aber erst der Anfang: Ich schaue mir natürlich die Bestände genauestens an, Mütter, Vermehrung, Vegi und Blüte. Mir ist außerdem alles, was mit Nachernteprozessen, also Trocknen, Curing, Trimming, zu tun hat, extrem wichtig; Robert Clarke hat mal gesagt, dass 80 % aller Qualitätsverluste nach der Ernte auftreten und das würde ich so unterschreiben. Schonende Prozesse hingegen wie die langsame, hängende Trocknung der ganzen Pflanze (vs. bspw. Trocknung einzelner Buds auf Blechen) und ein langes Curing können die Qualität erhalten, die im Blüteraum entstanden ist.
Und, als wenn das alles noch nicht genug wäre, sind für uns auch Aspekte wie Nachhaltigkeit und ein fairer Umgang mit Mitarbeitenden entscheidend. Und schließlich muss, so plump sich das anhören mag, auch das Zwischenmenschliche passen, der „Vibe“, denn in jeder Partnerschaft wird es irgendwann auch unangenehme Situationen geben und da ist transparente Kommunikation auf Augenhöhe extrem wichtig.
Die Begutachtung und Einschätzung einzelner Blüten ist dann noch mal ein eigenes Thema; dafür habe ich zu Beginn meiner Tätigkeit ein Bewertungssystem entwickelt. Das nutze ich zwar immer noch, habe es allerdings mittlerweile etwas angepasst, damit es mehr im Einklang mit dem Ganjier-System steht, das ich letztes Jahr in den USA kennenlernen durfte, als ich den entsprechenden Kurs dazu absolvierte.
Hanf Magazin: Mittlerweile ist die Anzahl an unterschiedlichen Cannabisblüten auf dem medizinischen Markt beträchtlich. Nach welchen Eigenschaften hältst Du Ausschau, wenn Du neue Strains auswählst, die Du für avaay in Betracht ziehst?
Tim: Unser Anspruch ist, dass jede:r Patient:in in unserem Portfolio nicht nur ein passendes, sondern ein ansprechendes Produkt finden kann. Wir müssen uns deshalb wiederholt fragen: Was brauchen die Leute, wonach suchen sie und wie können wir das abbilden?
Da arbeiten wir mit verschiedenen Dimensionen, z. B. dem THC-Gehalt, verschiedenen Aromagruppen oder auch der Eignung des Effekts, beispielsweise für den Einsatz tagsüber oder am Abend. So können wir „weiße Flecken“ im Sortiment identifizieren und ganz gezielt auf die Suche gehen. Gleichzeitig vermeiden wir, dass sich zu viele unserer Produkte zu ähnlich sind.
Was wir also aktuell genau suchen, kann von Situation zu Situation unterschiedlich sein. Unabhängig davon interessieren uns aber vor allem Produkte, die sich durch ihre herausragende Qualität hervorheben und auf besondere Weise von einem Team mit viel Leidenschaft angebaut werden.
Hanf Magazin: Kann man ungefähr beziffern, wie viele Cannabissorten man begutachtet, bis man etwas findet, was für das avaay Portfolio geeignet ist.
Tim: Das ist schwer zu verallgemeinern und hängt natürlich auch immer stark davon ab, wie „voll“ unser Portfolio aktuell ist und wo wir noch weiße Flecken haben. Am Anfang einer solchen Entwicklung geht es verhältnismäßig schnell, einen geeigneten Kultivar zu finden, weil ja gewissermaßen alles noch ein großer, weißer Fleck ist. Mittlerweile, mit einem schon recht gut bestückten Sortiment, tun wir uns da nicht immer ganz so leicht, sind aber mittlerweile auch viel besser vernetzt und haben mehr Möglichkeiten. Die Suche geht also weiter und ich glaube auch nicht, dass das jemals anders sein wird – dafür ist Cannabis viel zu vielfältig und auch die Entwicklungen in Zucht und Anbau viel zu spannend!