Debatte um Cannabis schon im 18. Jahrhundert
Fachleute, die von der Heilwirkung der Hanfpflanze überzeugt sind einerseits, die Staatsmacht, die Cannabis als das Böse schlechthin verteufelt und jede öffentliche Diskussion darüber verhindern will, andererseits. Was sich wie eine Beschreibung der gegenwärtigen Legalisierungsdebatte liest, weist in der Tat ins 18. Jahrhundert zurück.
Ist Cannabis Medizin oder Teufelswerk?
Soll es aufgrund seiner Heilwirkung gegen verschiedenste gesundheitliche Beschwerden allgemein zugänglich sein oder ist es so gefährlich, dass es mit allen Mitteln bekämpft werden muss? Dass diese Diskussion nicht erst im 20. Jahrhundert aufgekommen ist, zeigt die Tübinger Kulturhistorikerin Dr. Laura Dierksmeier in ihrem jüngst erschienenen Aufsatz mit dem Titel „Forbidden herbs: Alzate’s defense of ‚pipiltzintzintlis‘“.
José Alzate y Ramírez vs. Spanische Inquisition
Im Mittelpunkt des Aufsatzes steht der mexikanische Gelehrte José Antonio Alzate y Ramírez. Er setzte sich im Mexiko des 18. Jahrhunderts dafür ein, Cannabis als Heilmittel anzuerkennen. Dadurch geriet er in eine erbitterte Auseinandersetzung mit der spanischen Kolonialmacht und der katholischen Kirche, vertreten durch die Spanische Inquisition.
José Antonio Alzate y Ramírez (1737-1799), Priester, Herausgeber verschiedener Zeitungen, Naturwissenschaftler, Kartograf und Historiker, dazu korrespondierendes Mitglied der französischen Akademie der Wissenschaften, galt seinen Zeitgenossen als seriöser, ernst zu nehmender Wissenschaftler. Sein Ziel war es, die Öffentlichkeit, insbesondere die seines Heimatlandes Mexiko, mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen seiner Zeit vertraut zu machen.
Auslöser der erbittert geführten Debatte war ein 1772 veröffentlichter Artikel Alzates, in dem er Cannabis, das er mit seinem aztekischen Namen „Pipiltzintzintlis“ nannte, als Heilmittel gegen Husten, Gelbsucht, Tinnitus, Tumore, Depressionen und viele andere gesundheitliche Beschwerden empfahl. Damit allerdings rief er die katholische Kirche auf den Plan, in deren Augen Cannabis nichts anderes war als ein Mittel, das Hexen und Hexer benutzten, um mit dem Teufel persönlich in Verbindung zu treten. Daher musste Cannabis wie alle psychoaktiven Pflanzen in den Augen der Kirche aufs Strengste verboten werden. Kritik an diesem Totalverbot wurde nicht geduldet. Um jeden Widerspruch zu unterdrücken, bediente die Kirche sich der Inquisition.
Heilwirkung von Cannabis schon im 18. Jahrhundert bekannt
Als Belege für die medizinische Wirksamkeit von Cannabis führte Alzate verschiedene Überlieferungen an. Selbst gemachte Erfahrungen stehen dabei neben der mündlichen Überlieferung mexikanischer Ureinwohner und den Berichten von Seeleuten aus aller Herren Länder. Vor allem aber konnte sich Alzate auf zahlreiche wissenschaftliche Werke berufen. So hatten einige der berühmtesten wissenschaftlichen Kapazitäten den medizinischen Nutzen der Hanfpflanze längst erkannt, darunter etwa der französische Naturforscher Jacques-Christophe Valmont de Bomare (1731-1807), Mediziner wie die Deutschen Michael Ettmüller (1644-1683) und Engelbert Kaempfer (1651-1716) oder auch der Brite Thomas Willis (1621-1675), Arzt und Gründungsmitglied der Royal Society of London.
Die von Alzate angeführten Quellen ergänzt Dierksmeier in ihrem Aufsatz um weitere wissenschaftliche Traktate aus der Frühen Neuzeit, die dem mexikanischen Wissenschaftler offensichtlich nicht bekannt waren, wahrscheinlich, so die Tübinger Kulturhistorikerin, aufgrund sprachlicher Schwierigkeiten. Unter diesen zusätzlichen Quellen ist unter anderem das „Neuw Kreuterbuch“ aus dem Jahre 1588, verfasst von Jacobus Tabernaemontanus, einem deutschen Mediziner, Apotheker und Botaniker des 16. Jahrhunderts. Er empfahl Cannabis zur Linderung von Unterleibsschmerzen bei Frauen.
Dierksmeier stellt die Auseinandersetzung zwischen dem streitbaren Allround-Gelehrten und der Spanischen Inquisition in einen größeren Zusammenhang. „Alzates öffentliche Verteidigung des verbotenen Krauts zeigt allgemeine Streitfragen der mexikanischen Gesellschaft“, so die Lateinamerika-Expertin. „Er war ein unermüdlicher Vermittler zwischen kirchlichen Autoritäten und der Zivilgesellschaft, zwischen der spanischen Inquisition und seinen eigenen wissenschaftlichen Beobachtungen, zwischen Wissenschaftlern und der Öffentlichkeit sowie zwischen indigenem und europäischem Wissen. Alzates Methoden waren europäisch und typisch für die Aufklärung, seine Mission und sein Fokus aber waren spezifisch lateinamerikanisch. Er war stolz auf die natürliche Umgebung Mexikos und förderte die Verwendung einheimischer Kräuter, auch wenn dies bedeutete, sie vor dem Verbot der Kirche zu verteidigen.“
Das historische Beispiel zeige, so Dierksmeier weiter, dass die Legalisierung von Marihuana schon sehr lange ein kontroverses Thema sei. Dabei drohten zur Zeit Alzates schwerste Strafen. Wer es damals wagte, das von der katholischen Kirche gestützte Cannabisverbot auch nur infrage zu stellen, musste mit Verbannung oder gar mit Hinrichtung rechnen. Ganz so hart traf es Alzate zwar nicht, doch er musste miterleben, wie die Kirche dafür sorgte, dass drei der von ihm herausgegebenen Zeitungen erst zensiert wurden und schließlich ihr Erscheinen einstellen mussten. Öffentliche Kritik an den Positionen der Kirche durfte es ganz einfach nicht geben.
Bedeutung für die gegenwärtige Legalisierungsdiskussion
„Die Erkenntnisse der Studie können helfen, die gegenwärtige Legalisierungsdebatte zu bereichern oder zumindest die verhärteten Fronten aufzubrechen“, so die Ansicht Dierksmeiers. „Denn laut Alzate und den von ihm zitierten Wissenschaftlern überwiegt der Nutzen der Hanfpflanze als Baustoff oder Medizinpflanze die möglichen Nebenwirkungen. Oder wie José Antonio Alzate y Ramírez selbst sagte: ‚Ich glaube, ich habe die Vorteile der Nutzung von Pipilzitzintlis demonstriert und wie wir in der Sprache der Theologen sagen: Es ist schlecht, weil es verboten ist, nicht verboten, weil es schlecht ist‘.“