Eine Frage in einem Interview mit Jugendrichter Andreas Müller lautete, ob unsere Gesellschaft einen Prügelknaben braucht. Nicht sprichwörtlich, aber doch auf ähnliche Weise. Man kann von anderen Geschehnissen ablenken oder hat den Sündenbock, wenn etwas nicht läuft. Hat das pädagogischen Sinn in der Gesellschaft, wenn die Mehrheit sich bestätigt fühlt, weil jemand anderes eins drüber bekommt? Jemand anderes, der eigentlich niemandem anderen etwas getan hat?
Jugendrichter Andreas Müller
Im Interview, welches auf der Mary Jane Berlin 2018 entstand und hier im Video jeder sehen kann, wurden ganz unterschiedliche Fragen gestellt. Diese eine Frage hat aber gewiss noch keiner gestellt. Andreas Müller erklärt, dass es anscheinend wirklich gesellschaftlich gewollt ist, einen Prügelknaben zu haben. Die Cannabiskonsumenten wären seiner Ansicht nach der letzte dieser Prügelknaben in Deutschland. Sie haben niemandem etwas getan, müssen aber dennoch immer wieder öffentlich herhalten.
Wie viele Prügelknaben braucht das Land?
Die Frage wurde ganz bewusst so gestellt, dass ersichtlich ist, dass es Personen trifft, die einfach nur einen anderen Lebenswandel haben, die aber nicht wirklich jemandem damit schaden. Es kann genauso der Homosexuelle, die emanzipierte Frau oder der weniger Gebildete sein, der öffentlich herhalten muss. Dabei geht es nicht ausschließlich um den Hass auf den Prügelknaben, es geht um das Stigma, die Abwertung, die Benachteiligung. Es ist immerhin auch schlimm genug, als krank oder weniger vollwertig betrachtet zu werden, ohne zugleich Hass ausgesetzt zu sein.
All das lässt sich kaum rechtfertigen, wenn stigmatisierte Personen nichts für ihren eigenen Nachteil können, auf andere Rücksicht nehmen und keinen gesellschaftlichen Schaden verursachen. Selbst wenn, andere freiheitliche Rechte wie Alkohol- und Tabakkonsum, falsche Ernährung, gefährliche Sportarten oder die Internetsucht sind ebenfalls kein Grund, um die Betroffenen automatisch zu benachteiligen, zu stigmatisieren oder der Öffentlichkeit als weniger vollwertig zu präsentieren.
Anscheinend ist es immer sehr praktisch, wenn es die anderen gibt, wodurch sich eine Gemeinschaft festigen kann, so unterschiedlich sie auch ist. Die Schafherde braucht den bösen Wolf und ein paar Hütehunde, um immer schön beisammenzubleiben und Schutz beim Hirten zu suchen. Der Prügelknabe ist hier so etwas wie der böse Wolf.
Das System vom Stigma
In dem Moment, in dem die Gesellschaft ihrem Prügelknaben mit einem Stigma erklärt, dass er nicht vollwertig ist, wird er zumindest im öffentlichen Druck kuschen. Ob es die sexuelle Ausrichtung oder ein Laster im Leben sind, sobald man von klein auf erklärt bekommt, dass solche Leute schlechter sind, wird man sich diesem Stigma leichter beugen. Wenn es gesellschaftlich einfach untragbar und mit Benachteiligungen verbunden ist, wird kein Betroffener aufstehen und erklären, dass das so nicht o. k. ist. Jedem wäre es unangenehm, keiner möchte benachteiligt werden.
Dabei wird die Gesellschaft viele dieser Prügelknaben vermutlich per Zufall finden und einige gesellschaftliche Kräfte lenken das Stigma, wie es ihnen gerade auskommt. Nicht, weil die Opfer es verdient hätten, sondern um gesellschaftlich besser wirken zu können. Genauso kann auch eine Zielgruppe herausgepickt und gezielt diffamiert werden, wenn es gewissen gesellschaftlichen Kräften gut auskommt. Es ist immer ein Machtfaktor, wenn Menschen sich gegeneinander ausspielen lassen, ohne zu verstehen, was genau passiert.
Aber auch die herum stehenden Leute wie z. B. Familienangehörige werden mit solch einer Systematik nicht aufräumen. Diese Denkmuster sind meist über Jahrzehnte gewachsen und so fest im gesellschaftlichen Bewusstsein verankert, dass sie den Betroffenen höchstens das Leben schwer machen und Besserung abverlangen. Sie schämen sich für diese Betroffenen und haben Angst, selbst als etwas Schlechteres dazustehen. Sie werden bemüht sein, alles aus der Öffentlichkeit herauszuhalten und den Betroffenen erklären, dass sie sich zu ändern haben.
Und alle anderen, die einen Prügelknaben präsentiert bekommen, können sich als vollwertig innerhalb der Gesellschaft vorkommen, so jämmerlich sie in Wirklichkeit auch sein mögen.