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Es dürfte sich mittlerweile herumgesprochen haben, dass rohes Hanfkraut nicht wirkt. Der Wirkstoff steckt in den weiblichen Blüten und sollte erhitzt werden, um die volle Kraft zu entfalten. THC, CBD und viele andere Phytocannabinoide werden von der Pflanze natürlicherweise als weitgehend unwirksame Cannabinoid-Säuren erzeugt.
Eine Carboxylgruppe am Molekül scheint besonders die typischen Cannabinoidwirkungen im Nervensystem zu verhindern. Wenn die Pflanze trocknet und die Wirkstoffe, etwa beim Rauchen, erhitzt werden, wird diese Carboxylgruppe abgespalten. Der Wirkstoff wird decarboxyliert. Man spricht auch gerne von „Aktivierung“, da etwa THC erst decarboxyliert die begehrte psychoaktive Wirkung entfalten kann. Auch die beruhigende Wirkung von CBD wird erst von der decarboxylierten Substanz erzielt. Roher Hanf scheint also weitgehend wirkungslos zu sein.
Nun propagiert aber Dr. William L Courtney, ein amerikanischer Arzt und Cannabisaktivist, seit einigen Jahren genau das: Die beste Anwendung von Cannabis sei das Trinken von kalt gepresstem Saft oder püriertem Pflanzenbrei aus der ganzen Cannabispflanze, Blüten und Blätter, weibliche und männliche Pflanzen. Sein wichtigstes Argument für diese ungewöhnliche Medizin ist die Verabreichung großer Mengen THCA (A steht für „Acid“, also Säure) welche für Heilung und Wohlbefinden nötig sei. Die Maximaldosis für aktiviertes THC ist nämlich ungefähr 10 mg, wegen der starken psychoaktiven Wirkung ist mehr ziemlich unangenehm bis unerträglich. Courtney empfiehlt aber eine Dosis Hanfsaft, die 200 bis 500 mg THCA enthält. Bei der Herstellung, im Entsafter oder im Küchenmixer, solle deshalb immer auf niedrige Betriebstemperaturen geachtet werden, damit ja kein Wirkstoff aus Versehen aktiviert wird. Ein weiteres Argument für rohen Hanfsaft sei die Einnahme ausschließlich „natürlicher“ Cannabinoidsäuren.
Wenn man das Konzept kritisch betrachtet, kommen aber doch einige Fragen auf. Der deutsche Cannabis-Arzt Dr. Fanjo Grotenhermen etwa hat das Konzept in einem Artikel schon 2013 als äußerst fragwürdig zurückgewiesen.
Völlig abwegig ist die Einnahme von Rohhanf nun nicht, die Säureformen THCA und CBDA wirken erwiesenermaßen anti inflammatorisch. Auch immunmodulierende Wirkung ist anzunehmen. Richtig ist auch, dass man in nichtaktiviertem THCA eine hundertfache Menge zu sich nehmen kann, ohne die, in dieser Größenordnung tatsächlich höchst unangenehme Nebenwirkung eines vielfach überdosierten THC-Rausches. Fraglich aber, ob wirklich die Masse der Cannabinoide die heilsame Wirkung erhöht.
Kann man denselben Heileffekt nicht auch mit einer viel geringeren Dosis aktivierter Cannabinoide erzielen? Muss umgekehrt Courtney seinen Patienten zu so immens hohen Dosen raten, weil seine Zubereitungsform eben sehr schwach wirksam ist? Denn tatsächlich erschließen aktivierte Cannabinoide ein ungleich breiteres Wirkungsspektrum. Vor allem das nicht-psychoaktive CBD ist ungleich wertvoller als sein Vorläufer CBDA. Für Courtney, der die ganze Pflanze nutzen will, ist die Decarboxylierung aber ausgeschlossen, denn bei der dafür notwendigen Erhitzung von CBD würde auch THC entstehen. Mit reinen CBD-Extrakten, genauer gesagt Sorten ohne THC wäre aber auch dieses Problem gelöst. Courtneys Fixierung auf die ganze, natürliche Pflanze ist zwar sympathisch, aber nicht unbedingt förderlich für die Erschließung neuer Heilmittel und auch nicht ganz korrekt, denn decarboxylierte Cannabinoide entstehen teilweise auch in reifen Blüten.
Ein großes Problem der Rohsaft-Therapie ist dann der enorm hohe Hanfverbrauch. Es ist eben eine sehr amerikanische Methode, hier wird nicht gekleckert, sondern geklotzt. Für die empfohlene Tagesdosis zum Heilen und Gesundbleiben verbraucht Courtney gerne mal eine ganze Pflanze. Sicher, wenn wir weltweit wieder Hanf als normale Nutzpflanze betrachten, die zu tausenden auf Äckern und wild im Straßengraben wachsen darf, dann könnte man sich immer mal ein, zwei Büsche durch den Mixer jagen. Aber da Cannabis oft noch unter Strafe steht oder als teures, medizinisches Hightech-Produkt angebaut wird, scheint das doch etwas abwegig. Wer rohen Hanf konsumiert, verzichtet auf Wirkung und verschwendet Material.
Dr. Courtney hat recht
Rund um den Hanf, die Phytocannabinoide und die Terpene ist noch viel zu erforschen. Und es ist sehr wahrscheinlich, dass das Zusammenspiel der einzelnen Wirkstoffe wichtig für die Wirkung ist. Es wäre also zumindest möglich, dass die Inhalte von Blatt und Stängel männlicher Pflanzen zusammen mit THCA und CBDA zum Wirkmuster beitragen und vielleicht eine besonders heilsame Mischung ergeben. Man könnte schließlich den bewussten Verzicht auf berauschendes THC auch als skurrilen, aber vielleicht nützlichen Schritt auf dem Weg zu einem normalisierten Umgang mit Cannabis als Volksmedizin begreifen.
Wer also im Jahr 300 bis 400 Hanfbüsche übrig hat, die sonst keine Verwendung finden, kann die zu Rohhanfsaft verarbeiten und zum Frühstück trinken. Alle anderen, die wir mit hohen Preisen und strafrechtlichen Risiken leben müssen, werden da lieber mit den potenzierten Konzentraten vorlieb nehmen.
Bis sich hier die Wissenschaft und Gesundheitspolitik zu eindeutigen Empfehlungen durchringen, können wir ja die Wartezeit mit einem Hanfblütentee überbrücken, der, richtig gekocht, tatsächlich eine angenehm ausgewogene Mischung von aktivierten und sauren Cannabinoiden enthält, wie eine niederländische Studie herausfand. Denn der heiße Kräutertee ist auch eine traditionelle Zubereitungsform, bekannt überall, wo Hanf als Nutz- und Heilpflanze diente.