Passend zur Weihnachtszeit beschäftigt sich der sechste Teil der Serie „Heimische Ethnobotanik“ mit der allseits bekannten Konifere Picea abies, die neben der Blau-Fichte (Picea pungens), der Nordmann-Tanne (Abies nordmanniana) und einigen anderen Nadelholzgewächsen zu den beliebtesten Weihnachtsbäumen gehört. Ein Blick auf die Kulturgeschichte dieser Pflanze verrät jedoch, dass sich ihr dokumentierter Gebrauch nicht nur auf einen Einsatz als Weihnachtsbaum beschränkt. Auch als wichtige Heil- und Ritualpflanze – etwa in der Darreichung eines harmonisierenden und reinigenden Räucherwerks – ist die Fichte seit alters her von herausragender ethnobotanischer Relevanz.
„Wer sich einmal im Wald an einem Fichtenstamm angelehnt hat, konnte vielleicht die Kraft und die Souveränität spüren, die von diesem Baum ausgeht.“ (Puhle et al. 2013: 125)
Botanische Zuordnung
Gattung → Picea DIETRICH (Fichten)
Familie → Pinaceae SPRENG. ex RUDOLPHI (Kieferngewächse)
Synonyme
Pinus excelsa LAMARCK, Picea excelsa (LAMARCK) LINK, Picea montana SCHUR, Picea rubra DIETRICH, Picea vulgaris LINK
Volkstümliche Trivialnamen
Europäische Fichte, Fichtenbaum, Gemeine Fichte, Gewöhnliche Fichte, Krestling, Rotfichte, Rottanne, abete rosso (it.), Common spruce (engl.), épicéa (franz.),
Ethnobotanisch relevante Picea-Spezies
- Picea abies (LINNÉ) KARSTEN – Gemeine Fichte
- Picea glauca (MOENCH) VOSS – Weiß-Fichte
- Picea mariana (MILL.) BRITT., STERNS et POGGENBURG – Schwarz-Fichte
- Picea obovata LEDEBOUR – Sibirische Fichte
- Picea pungens ENGELMANN – Stech-Fichte, Blau-Fichte
- Picea smithiana (WALL.) BOISSIER – Himalaya-Fichte
Je nach Auffassung umfasst die Gattung Picea 30 bis 50 Arten. Sie alle gedeihen in den gemäßigten und kühlen Gefilden der nördlichen Hemisphäre.
Aussehen
Die Fichte ist ein immergrüner Nadelbaum mit einer kegelförmigen Krone und einer rotbraunen, rundlich-schuppigen Rinde. Optisch ähnelt die sie der verwandten Tanne (Abies spp.), genau, wie sich auch der Duft der Fichte mit jenem der Tanne sehr gut vergleichen lässt. Picea abies erreicht unter artgerechten Wachstumsbedingungen eine Höhe von bis zu 70 m und ein beeindruckendes Lebensalter von über 600 Jahren. Trotz der beachtlichen Größe dringen die Wurzeln bloß ein-maximal zwei Meter in die Erde ein. Die Zapfen werden aus den roten Blüten gebildet, erreichen eine Länge von 10 bis 15 cm und enthalten das dunkelbraune, eiförmige sowie flugfähige Saatgut. Charakteristisch für die Zapfen im Vergleich zu jenen vieler anderer Nadelbäume ist, dass sie bei der Fichte nach unten hängen. Bei der Weiß-Tanne (Abies alba) beispielsweise stehen die Zapfen aufrecht nach oben ab.
Vorkommen
Abgesehen von Großbritannien ist die Fichte in ganz Europa heimisch. Besonders stark verbreitet ist der Baum in Mittel-, Nord- und Osteuropa sowie in weiten Teilen Russlands. Grundsätzlich mag die Fichte ein kaltes und feuchtes Klima und ist daher besonders häufig im Gebirge anzutreffen. Picea abies findet man aufgrund ihrer forstwirtschaftlichen Bedeutung in jedem Nadelwald.
Inhaltsstoffe
Die Nadeln, Triebspitzen und das Harz enthalten als zentralen Inhaltsstoff ein ätherisches Öl (Terpentinöl), bestehend aus Bornylacetat, Camphen, Candinen, Dipenten, Limonen, Pinen sowie einigen weiteren Stoffen. Daneben sind Ameisensäure, Gerbstoffe, das Glykosid Picein, Saccharose, Schleimstoffe und Vitamin C enthalten.
Fichten-Kultur im eigenen Garten
Im Garten bietet sich die Fichte gleichermaßen als frei stehende Solitärpflanze sowie als dicht stehende – Vögeln und Insekten Zuflucht bietende – Hecke. Die Anzucht ist einfach und erfolgt durch Saatgut oder gekaufte Pflanzen. Aus Saatgut vorgezogene Jungpflanzen wachsen in der Regel schnell heran und können nach zwei Jahren an ihren Standort gepflanzt werden. Im Idealfall ist dieser kühl und feucht. Bei trockenem Boden muss die Fichte entsprechend häufiger gegossen werden. Besondere Pflegemaßnahmen sind keine erforderlich. Im Falle eines Befalles von Nadelläusen empfiehlt sich der Einsatz von Brennnesseljauche als biologisches Insektizid. Wird die Fichte und mehrere Fichten als Hecke angepflanzt, sollte der erste Rückschnitt dann erfolgen, sobald der Haupttrieb die gewünschte Wuchshöhe erreicht.
Mythologie, Ritual & Symbolik
Es gibt zwar keine eindeutigen Belege dafür, aber es kann zu hoher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass die Fichte zu den ureuropäischen Räucherstoffen gehört. Doch wie genau und zu welchen Zwecken die europäische Urbevölkerung die Fichte als rituelles Räucherwerk eingesetzt hat, kann heutzutage unter anderem aufgrund römisch-katholischem Imperialismus und gezielter Auslöschung heidnischer Kulturen und deren Wissen leider nur noch spekuliert werden. In Anbetracht des Wirkprofils könnte es beispielsweise so sein, dass Fichtennadeln oder -harz zu früheren Zeiten als rituelles und vor negativen Einflüssen schützendes Räucherwerk eine Rolle spielten.
Klar ist jedoch, dass der Brauchtum, sich in den düsteren und kalten Raunächten eine Fichte ins Haus zu stellen, bis in vorchristliche Zeiten zurückreicht. In ihren Wurzeln hat diese Tradition allerdings nichts mit Weihnachten respektive der Geburt Jesus Christi zu tun. Vielmehr war die Fichte unseren heidnischen Ahnen ein heiliger, vor negativen Einflüssen bewahrender Schutzbaum, der gleichzeitig den Sieg des Lichtes (Bewusstsein) über den Tod symbolisierte. Auf dieser Vorstellung basiert auch die rituelle Praktik, in Folge eines Trauerfalls einen Fichtenzweig über die Haustüre oder das Totenbett zu hängen oder einen Scheiterhaufen mit Fichtenzweigen auszustatten.
Für die germanischen Ethnien war die Fichte ein Baumheiligtum sondergleichen.
Wie der Ethnologe Christian Rätsch behauptet, handelte es sich bei dem sagen- und mythenumwobenen Weltenbaum Irminsul (Irmin- bzw. All-Säule) um eine Fichte (vgl. RÄTSCH 1996:76).
Die alten Griechen stellten aus Fichtenholz ihre Schiffsmaste her, sodass es naheliegt, diese Pflanze dem Meeresgott Poseidon zu weihen. Im Aberglauben der Seefahrer existierte die Vorstellung, dass es der im Fichten-Mast lebende Pflanzengeist ist, der nachts als „Klabautermann“ auf dem Schiff erscheint und entweder nützliche Taten vollbringt oder den Seeleuten Streiche spielt, je nachdem, wie er von den Seefahrern behandelt wurde.
Im europäischen Mittelalter wurden Harz, Nadeln und Zapfen der Fichte wegen der antiseptischen Wirkungseigenschaft zwecks Reinigung und Desinfektion von Wohnräumen geräuchert, im Besonderen zur Zeit der großen Seuchen und Pestepidemien.
Die Fichte als altertümliches und neuzeitliches Arzneimittel
„Guten Morgen Frau Fichte, da bring ich dir die Gichte!“ (Alter Heilspruch)
Bereits Hildegard von Bingen, Paracelsus und vielen anderen damaligen Kräuterkundigen war die Fichte als besondere Heilpflanze bekannt. So wurden Nadeln, Triebspitzen und Harz der Fichte sowie das aus dem Baum gewonnene Terpentin schon damals bei Gicht, Gliederschmerzen, Rheuma, Skorbut, Vitamin-C-Mangel, Blutkrankheiten, Husten, Hexenschuss und Erkältungskrankheiten verordnet. Das Harz wurde außerdem als Pflaster genutzt.
Hinweis: Da das ätherische Öl der Fichte in stärkeren Konzentrationen Schleimhaut- und Hautreizungen verursacht, sollte es nur in Verdünnung angewendet werden, ganz gleich, ob innerlich oder äußerlich.
Als medizinisches Räucherwerk wurden Harz und Nadeln bei Erkrankungen der Atemwege, des Rachens oder der Lunge eingesetzt. Dazu wird der aufsteigende Rauch minimal inhaliert. Allerdings sollten Personen mit Asthma bronchiale oder Keuchhusten von dieser Möglichkeit der Wirkstoffzufuhr sicherheitshalber absehen.
Schulmedizinische Anwendung erfährt die Fichte meist in Form eines durchblutungsfördernden, wärmenden, entspannenden, husten- und schleimlösenden sowie Myalgien (Muskelschmerzen) lindernden Badewasser-Zusatzes.
Wirkung
Auf der körperlichen Ebene wirkt die Fichte – etwa als Inhalativum, Teeaufguss oder Tinktur eingenommen – antibakteriell, entzündungshemmend, durchblutungsfördernd, lungenreinigend, schweißtreibend und tonisierend.
Die Fichte als gieß-bewegende Räucherpflanze
„Wenn man die Terpentindämpfe einatmet, verliert man vorübergehend das Gefühl für Raum und Zeit; der Blick wird trübe, die Welt kommt einem verändert vor.“ (FAURE 1990: 26)
Zum Räuchern wird sich üblicherweise des aromatischen Harzes bedient, seltener den Triebspitzen. Da Fichtenharz beim Räuchern einen dichten Dampf entwickelt, ist es ratsam, während des Räuchervorgangs für ausreichend Frischluft zu sorgen. Das Harz kann hervorragend allein geräuchert werden, eignet sich gleichzeitig aber auch als Ingredienz beliebiger Räuchermischungen. Persönlich räuchere ich Fichtenharz am liebsten in Mixtur mit anderen Stoffen, denn hierdurch wird nicht nur die Duftnote beeinflusst, sondern auch die qualitative Wirkung der einzelnen Stoffe synergistisch verstärkt.
Eine Mischung, die sich – wie ich persönlich finde – ausgezeichnet für die rituelle Reinigung eignet, setzt sich beispielsweise aus folgenden Zutaten zusammen: Beifuß (Artemisia vulgaris), Duftgras (Hierochloe odorata), Engelwurz (Angelica officinalis), Fichtenharz (Picea abies), Holunder (Sambucus nigra), Salbei (Salvia apiana oder Salvia officinalis) und Wacholder (Juniperus communis).
Weitere Räuchermischungen mit Fichtenharz als Ingredienz sind zum Beispiel folgende:
Ahnenrauch (nach RÄTSCH): Fichtenharz (Picea abies), Baldrian (Valeriana officinalis), Erdrauch (Fusmaria officinalis)
Julfest-Räuchermischung (nach BADER 2008: 193): Alantwurzel (Inula helenium), Beifuß (Artemisia vulgaris), Fichtenharz (Picea abies) – alternativ auch Tannenharz (Abies alba) – Ilexbeeren (Ilex aquifolium), Johanniskraut (Hypericum perforatum), Mariengras (Hierochloe odorata), Mistel (Viscum album), Myrrhe (Commiphora spp.), Nelken (Syzygium aromaticum), Rosenblätter (Rosa spp.), Weihrauch (Boswellia spp.), Zimt (Cinnamomum verum)
„Eine Fichtenräucherung wirkt vermittelnd auf den Körper und lässt ihn wieder seinen Platz am Ort finden.“ (STRASSMANN 1994:138))
Was die Geist bewegende Wirkung des als Räucherwerk eingesetzten Fichtenharzes betrifft, ist es so, dass der kräftig-waldige Duft eine Person auf olfaktorischem Wege augenblicklich mit den heimischen Nadelwäldern verbindet. Persönlich – das ist zwar rein subjektiv, wird aber auch von vielen anderen Personen beschrieben – verspüre ich nach einer Fichtenräucherung zwar keine starke Psychoaktivität im eigentlichen Sinne, also keine spektakuläre Bewusstseinsveränderung, aber dennoch wirkt die Räucherung zweifelsohne Geist bewegend. Der Geruch entspannt, beruhigt und bringt die Gedanken zur Ruhe. Ein wenig so, also würde nicht nur der Raum, sondern auch der Geist gereinigt werden. Viele Personen beschreiben auch, dass eine Fichtenräucherung bei ihnen konzentrationsfördernd und herzöffnend wirke. Wird zu viel des Fichtenrauch inhaliert, kommt es gegebenenfalls zu Schwindelgefühlen und Kopfschmerzen.
Wegen der reinigenden und harmonisierenden Wirkung eignet sich die Fichte für sämtliche schamanischen oder psychonautischen Ritualtypen, ferner nach einem Streit oder dann, wenn eine neue Wohnung bezogen wird. Die Qualitäten und Informationen der Fichte helfen dabei, Altes bereinigen zu können und Platz für Neues zu schaffen.
Fichtenharz sammeln
Das Sammeln des Fichtenharzes ist an keine Jahreszeit gebunden, da es das ganze Jahr über gefunden werden kann. Es sollte jedoch tunlichst berücksichtigt werden, dass man nur das Harz alter und bereits verheilter Wunden nimmt. Ansonsten würde der Sammler den Baum zusätzlich verletzen, was ganz sicher nicht gewollt wird.
Achtung: Für den Fall, dass sich die Fichte nicht im eigenen Garten befindet, muss daran gedacht werden, dass im juristischen Sinne grundsätzlich der Grundstücksbesitzer oder ggf. auch der Förster um Erlaubnis gefragt werden muss, will man das Harz oder die Triebspitzen ernten.
Sonstige Anwendungsmöglichkeiten
Neben der Verwendung als Räucherwerk gibt es einige weitere Möglichkeiten der Wirkstoffzufuhr, die im Folgenden kurz erläutert werden.
Badezusatz
200 bis 400 Gramm der Triebspitzen werden mit 1 Liter siedendem Wasser übergossen, 5 Minuten ziehen gelassen und im Anschluss ins laufende Badewasser gegeben.
Teeaufguss
Für die Herstellung eines Fichtentees werden die Triebspitzen und Nadeln benötigt. Gesammelt werden diese am besten im Frühjahr. Die Nadeln können aber auch im Sommer gesammelt werden, dann, wenn sie ausgewachsen sind. Damit dem Baum jedoch kein unnötiger Schaden zugefügt wird, sollte man nur sparsam ernten und nur die Triebe aus dem unteren Bereich entfernen. Die Dosis für einen Tee beläuft sich auf einen Teelöffel der Nadeln, welche mit 200 ml Wasser übergossen und 10 Minuten köcheln gelassen werden. Nach dem Abseihen ist der Tee trinkfertig. Zum Süßen eignet sich Honig oder Xylit (Birkenzucker). Zu therapeutischen Zwecken werden täglich drei bis vier Tassen getrunken.
Tinktur
Abhängig der gewünschten Potenz wird eine beliebige Menge der Nadeln oder Triebspitzen mit einem hochprozentigen Alkoholikum übergossen. Wichtig ist, dass hierfür ein verschließbares Gefäß verwendet wird, welches, sobald die Nadeln vollständig von der Flüssigkeit überdeckt sind, verschlossen und für etwa 10 Tage an einem dunklen Ort aufbewahrt werden. Täglich sollte das Behältnis mindestens einmal kräftig geschüttelt werden. Äußerlich angewendet ist eine Fichten-Tinktur ein hervorragendes Therapeutikum zur Behandlung von Gelenk- und Muskelschmerzen (z. B. Muskelkater, Verspannungen). TIPP: Viele Personen schwören im Kontext der Tinktur auf eine synergistische Kombination aus Fichtennadeln und Wacholderbeeren.
Quellen und Literatur
Bader, Marlis (2008): Räuchern mit heimischen Kräutern, München: Goldmann Verlag.
Faure, Paul (1990): Magie der Düfte, München und Zürich: Artemis.
Puhle, Annekatrin/ Trott-Tschepe, Jürgen/ Möller, Birgit (2013): Heilpflanzen für die Gesundheit, Stuttgart: Franckh-Kosmos Verlag.
Rätsch, Christian (1996): Räucherstoffe – Der Atem des Drachen, AT Verlag: Aarau.
Strassmann, René A. (1994): Baumheilkunde, Aarau: AT Verlag.