In dieser mehrteiligen Artikelserie mit dem Titel „Heimische Ethnobotanik“ liegt der Fokus auf jenen Pflanzenarten, die in Europa schon lange als wichtige Heil-, Ritual- oder Rauschpflanzen bekannt sind und seit jeher entsprechend genutzt werden. Dabei wird sich der erste Teil dieser ethnobotanischen Reihe mit der allseits bekannten Mistel (Viscum album) beschäftigen – eine auf Bäumen schmarotzende Pflanze, die unseren Vorfahren heilig war, mit einer Vielzahl an Symbolen versehen ist und außerdem genesungsfördernde Heilqualitäten aufweist.
Botanische Synonyme
Viscum album L., Viscum stellatum D. DON.
Trivialnamen
Affolter, Albranken, Bocksfutter, Donarbesen, Donnerbesen, Drudenfuß, Elfklatte, Geißkrut, Heil aller Schäden, Hexenbesen, Hexennest, Knisterholz, Nistel, Vogelkläb, Vogelleimholz, Vogelmistel, Weißbeerige Mistel, Wintergrün, Wintersamen, (european) Mistletoe (engl.), Gui (franz.), Vischio comune (it.), Maretak (niederl.)
Botanische Zuordnung
Gattung → Viscum (Misteln)
Familie → Santalaceae (Sandelholz- bzw. Leimblattgewächse), früher: Viscaceae (Mistelgewächse)
Unterarten von Viscum album – Abhängig der jeweiligen Wirtsbäume
Viscum album ssp. abietis | Tannen-Mistel (Weißtanne) |
Viscum album ssp. album | Laubholz-Mistel (Ahorn, Apfel, Birke, Buche, Esche, Hasel etc.) |
Viscum album ssp. austriacum | Kiefern-Mistel (Kiefern, seltener Fichten und Lärchen) |
Viscum album ssp. creticum | Kretische Mistel (Türkische Kiefer/Pinus brutia) |
Anmerkung: Die sogenannte Eichenmistel (Loranthus europaeus), die ebenfalls von ethnobotanischer Relevanz ist, gehört einer anderen Pflanzenfamilie an, nämlich den Riemenblumengewächsen (Loranthaceae).
Botanik
Viscum album ist ein immergrüner Halbparasit bzw. Halbschmarotzer, das heißt, dass die Pflanze ihrem Wirtsbaum ausschließlich das benötigte Wasser sowie die Nährsalze entzieht. Die Photosynthese bewerkstelligt sie alleine. Zu finden ist die Mistel grundsätzlich in den Kronen ihrer Wirtsbäume. Sie wurzelt niemals im Boden, sondern immer nur in den Ästen von Bäumen. Die Wuchsform der Mistel ist typischerweise kugelförmig. Ihr Durchmesser beläuft sich auf maximal 1,5 Meter. Die Blätter sind lanzettförmig, fest, ledrig beschaffen und bleiben das ganze Jahr über grün.
Das besondere an den Blättern ist, dass sie nicht welken. Sie bleiben solange grün, bis sie irgendwann abfallen. Zudem besitzen sie keine typische Unter- und Oberseite. Die Blüten sind zweihäusig, gelb-weiß, jedoch sehr unscheinbar und fallen kaum auf. Sie erscheinen in der Zeit von März bis Mai. Die Früchte kommen zur Winterzeit. Dabei handelt es sich um weiß-glasige Beeren, die das Saatgut sowie einen klebrigen Schleimstoff enthalten. Dieser ist zur erfolgreichen Vermehrung unerlässlich, denn durch ihn wird garantiert, dass die Samen am Wirtsast kleben bleiben. Aber natürlich erst, nachdem die Beeren von Vögeln wie der Misteldrossel (Turdus viscivorus) oder der Mönchsgrasmücke (Sylvia atricapilla) beispielsweise verzehrt und mit ihrem Kot wieder ausgeschieden wurden.
Allerdings variiert die Toxizität abhängig vom jeweiligen Wirtsbaum. Nachgewiesen sind Misteln von Ahorn, Linde, Walnuss sowie der Robinie (auch falsche Akazie) am giftigsten. Misteln vom Apfelbaum hingegen gelten als diejenigen mit der geringsten Toxizität.
Vorkommen
Heimisch ist Viscum album in Nordeuropa und Nordasien. Inzwischen ist die Pflanze aber auch in süd- und mitteleuropäischen Regionen weitläufig verbreitet.
Inhaltsstoffe
Im Mistelkraut ist eine Vielzahl unterschiedlicher Inhaltsstoffe enthalten. Zum Beispiel das biogene Amid Tyramin, Betulinsäure, Bitterstoffe, Flavonoide, Glykoproteine, Harz, Histamin, Inosit, Lignane, Oleanolsäure, Phenolcarbonsäuren, Polysaccharide, Triterpene (Amyrin u. a.), Ursolsäure, Saponine, Schleimstoffe, Viscalbin, Viscin, Viscotoxine, Xanthophyll und Zink.
Anzucht im Garten
Die Anzucht der Mistel ist schwierig, bedenkt man, dass die Verbreitung der Samen natürlicherweise über Vogelkot geschieht. Die Vögel nämlich fressen die samenhaltigen Beeren und scheiden sie mit ihrem Kot wieder aus. Es ist also gut möglich, dass die Mistel von ganz alleine in den Garten kommt, vorausgesetzt, es befinden sich Bäume in ihm, auf deren Ästen und Zweigen die Mistel keimen und Wurzeln schlagen kann.
Kommt die Mistel nicht auf natürlichem Wege in den Garten, kann die Anzucht gelingen, indem die klebrigen Beeren im zeitigen Frühjahr auf die Äste gestrichen bzw. gedrückt werden.
Allerdings sollte der Gärtner bedenken, dass die Mistel eine Wirtspflanze ist, die den Wasserhaushalt ihres Baumes anzapft ohne diesem dafür etwas zurückzugeben. Viele Misteln auf einem Baum schaden diesem deshalb auf langfristige Sicht. Ein einziger Mistelstrauch hingegen kann einem Baum keinen Schaden anrichten. Diesen kann ein gesunder Baum ohne Schwierigkeiten mit versorgen.
Ritual, Mythologie & Symbolik
Die Mistel gehört zu den ältesten Zauberpflanzen Europas. Seit jeher gilt sie auf gleiche Weise als Glücks-, Fruchtbarkeits-, Lebens- und Todessymbol. Aufgrund dessen, dass die Mistel selbst bei starkem Frost ein saftig grünes Blattwerk trägt, wird sie auch als Symbol für das ewig währende Leben, für Wiedergeburt und Unsterblichkeit gedeutet. Auf der anderen Seite wurde die Mistel auch mit dem Tod und Sterben assoziiert, indes diese Symbolik vor allem auf der Naturbeobachtung basiert, dass die Mistel Bäume befällt und diesen durch Nährstoffentzug langfristig einen Schaden zufügt.
Besonders heilig war die Pflanze den keltischen Druiden. Von ihnen wurde die Mistel auch oljo-liagi genannt, was übersetzt so viel wie „Allesheiler“ bedeutet.
Der Pflanze wurde eine ganze Reihe magischer Eigenschaften zugesprochen, unter anderem, dass sie Unheil und böse Geister abwehrt. Und genau aus diesem Grund, nämlich, weil man schlechte Energien vor dem Eindringen ins Haus hindern wollte, werden traditionell oberhalb des Hauseingangs Mistelzweige befestigt. Ein heidnischer Brauch, der in vielerlei Regionen bis heute fortbesteht. Genau wie jene glücksverheißende Tradition, sich als Paar unter dem Mistelstrauch zu küssen.
Von unseren keltischen Ahnen wurden besonders jene Mistelarten als und Zauberpflanze verehrt, die in der Krone einer Eiche wuchsen. Diese durften ausschließlich zu ganz besonderen Zeitpunkten und Mondphasen gesammelt, etwa an den Tagen der Sommersonnen- oder Wintersonnenwende, und – gemäß Überlieferungen – nur mit einer goldenen Sichel vom Wirtsbaum geschnitten werden.
Ob die Sichel aber tatsächlich aus Gold gewesen ist, darf bezweifelt werden, denn eigentlich ist das Holz der Mistel viel zu hart, um mit Gold geschnitten werden zu können. Eher ist es möglich, dass die Sichel aus Bronze gewesen ist. Nach dem Sammeln wurden aus Dank sowie zwecks Segenserbittung für gewöhnlich zwei weiße Stiere geopfert. Stiere deshalb, weil nach keltischer Mythologie die weißen Mistelbeeren die Spermatropfen des kosmischen Stieres symbolisieren, der einst die große Göttin befruchtete und darüber hinaus als eines der wichtigsten keltischen Krafttiere den Herrn der Eiche verkörpert.
Doch nicht nur im alten Keltentum, sondern de facto in allen zentral- und nordeuropäischen Kulturen, kam der Mistel eine herausragende Stellung als wertvolle Heil- sowie zeitgleich mysteriöser Zauberpflanze zu. So galt die Mistel mit ihrer gegabelten Wuchsform den Germanen zum Beispiel als eine Art Zauber- bzw. Wünschelrute, die nicht nur den Weg zur Unterwelt öffnet und dabei hilft die Schwelle zum Jenseits zu überschreiten, sondern mit deren Hilfe sich auch verborgene Schätze finden, Diebe bannen sowie Schlösser sprengen lassen. Aber insbesondere wegen ihrer Eigenschaft, eine Verbindung zur Anderswelt herleiten zu können, wird die Mistel seit jeher im Rahmen von Ahnenkulten verwendet, etwa in Form von Räucherwerk.
Ein solches kann dabei helfen, dass wir mit unseren Vorfahren in Verbindung treten können, beispielsweise dann, wenn wir ihren Beistand und Segen erbitten möchten.
Erst im Zuge der Christianisierung geriet die Mistel, genau wie eine Vielzahl weiterer heilsamer Zauberpflanzen, zunehmlich als sogenanntes Hexenkraut in Verruf. Vermutlich wird man bis zum heutigen Tage keine einzige Kirche finden, die mit Mistelzweigen dekoriert ist.
Misteln als Heilpflanzen
Die Mistel ist nicht nur eine heilige keltische Ritualpflanze, sondern sie wird seit jeher und sogar bis in die moderne Neuzeit hinein auch als Heilpflanze zur Behandlung einer Vielzahl von Krankheiten verwendet. Äußerlich aufgetragen, etwa als Brei oder als Salbe, nutzten unsere Vorfahren die Mistelblätter als wirksame Medizin zur Behandlung von Erfrierungen. Als kaltangesetzten Teeaufguss innerlich eingenommen wirkt Mistel abführend, beruhigend, blutdrucksenkend, blutstillend, entzündungshemmend, gefäßerweiternd, harntreibend, krampflösend sowie nerven- und stoffwechselstärkend. Im Kontext der traditionellen europäischen Naturheilkunde wird Mistelkraut deshalb auch zur Behandlung von Arteriosklerose, inneren Blutungen, Epilepsie, Fieber, hohem Blutdruck, Kopfschmerzen, Rheuma, Verdauungsstörungen und Wechseljahresbeschwerden empfohlen.
Heutzutage ist die Mistel primär als naturheilkundliches Mittel zur ergänzenden Behandlung von Krebs bekannt. Entdeckt wurde die antikarzinogene Wirkung der Mistel von dem Philosoph und Anthroposophie-Begründer Rudolf Steiner (1861-1925), der zugleich der Initiator der sogenannten Misteltherapie ist. Ob die Mistel jedoch tatsächlich das Immunsystem stärkt, den Krebswachstum eindämmt sowie für eine Abschwächung der strahlentherapeutischen Nebenwirkungen sorgt, wird in medizinischen Fachkreisen sehr kontrovers diskutiert.
Wirkung
Abhängig der Darreichung verfügt die Mistel über ein breites Spektrum an unterschiedlichen Wirkeigenschaften (siehe medizinischer Gebrauch).
Wird die Mistel als Räucherwerk eingesetzt, so wie es im psychonautisch- oder schamanisch-rituellen Kontext gelegentlich praktiziert wird, wirkt sie angstlösend, geistklärend und traumfördernd. Eine Mistelräucherung kann wunderbar dabei helfen innere Bilder und Visionen besser verstehen und integrieren zu können. Auf der energetischen Ebene bewirkt die Mistel zweierlei: Zum einen stärkt sie unsere energetischen Abwehrkräfte respektive unseren feinstofflichen Schutzmantel, was insbesondere bei Reisen in die Anderswelt sehr nützlich sein kann. Daneben wirkt eine Mistel-Räucherung stark reinigend, was damit zusammenhängt, dass der Qualm negative in positive Energie transformiert.
Zubereitungsformen
Räucherwerk
Die Mistel – die in einer rituellen Räuchermischung symbolisch sehr häufig für den Mittwinter steht – entwickelt beim Räuchern einen warmen, würzigen und leicht süßlichen Rauch. Das Kraut lässt sich gut pur räuchern und leicht inhalieren, persönlich mische ich es aber lieber mit anderen Räucherpflanzen und- harzen, etwa mit Beifuß, Fichtenharz, Johanniskraut oder Rosenblättern.
Tee (kaltangesetzt)
Misteltee wird grundsätzlich kalt angesetzt. Am besten nimmt man zwei Teelöffel auf 0,5 bis 1 Liter Wasser und lässt den Auszug über Nacht bzw. über einen Zeitraum von acht bis zehn Stunden ziehen. Je nach persönlicher Präferenz kann der Tee vor dem Trinken leicht erwärmt werden (nicht kochen).