Vieles überblickt eigentlich keiner, während es passiert. Viele haben schon zurückgeschaut und erst dann verstanden. So ist es auch mit einer „Drogenkarriere“, da eigentlich keiner bewusst den Weg bis ganz unten antritt und doch so viele ihn gehen. Jörg Böckem erklärt in seiner Lesung „High sein – Lass mich die Nacht überleben“ mit anschließender Diskussion am 29.05.2017 in der Stadtbücherei Münster, veranstaltet durch Debatte e. V., dass er einen abwesenden Vater und eine dominante Mutter hatte. Er wollte auch deswegen nur noch high sein.
Jörg Böckem zu Heroin – seiner Königsdroge
Auf dem Dorf ging es kleinbürgerlich zu. Der Vater meinte, er verdiene ganz viel Geld, damit die Kinder es mal besser haben. Die Mutter blieb daheim, um noch mehr Zeit dafür zu investieren, ihre Kinder zu „überbehüten“. Jörg erklärt, dass diese einst sehr typische Konstellation gepaart mit abwesendem Vater und dominierender Mutter das typische Familienbild für Suchtkranke ist.
Jörg Böckem wollte nicht mehr, dass andere es für ihn besser wissen und für ihn entscheiden. Er rebellierte bereits im frühen Jugendalter, um genau das zu machen, was er nicht sollte: Drogen nehmen gehörte für ihn zum guten Ton, um aus dieser „Musterhaus-Familie“ auszubrechen. Um von der „Bahn“ abzukommen, damit ein eigener Weg gegangen werden kann. High sein war Pflichtprogramm.
Er ist inzwischen über 50, hat drei Therapien und das „volle Programm“ hinter sich gebracht. Bereits mit 19 war er mit LSD, Kokain und Heroin so drauf, dass er seine Festnahme mit vorgehaltener Waffe erst im Nachhinein begriff. Seit 15 Jahren sei er clean, er schreibt nicht nur als Journalist, sondern auch Buchautor. Er hat vieles an sich selber und in seinem Umfeld beobachtet.
Im Spiegel Büro Heroin spritzen
High sein und Lass mich die Nacht überleben sind nur zwei Buchwerke von Jörg, der als Journalist in seinen Konsumjahren auch für den Spiegel gearbeitet hat. Er hatte wie jeder Fixer nach einiger Zeit das Problem, seine Venen nicht mehr nutzen zu können, da diese zerstochen waren. Musste er im Spiegel Gebäude Meetings verfolgen oder anderweitig vor Ort sein, war das ein ziemliches Problem, da man sich als Fixer mehrfach am Tag einen Druck setzen muss. Dabei geht es gar nicht mehr um das High sein sondern einfach um den Entzug wieder „wegzudrücken“. Wie er unter seinem Schreibtisch das Heroin aufkochte und auf der Spiegel-Toilette verzweifelt nach einer brauchbaren Vene suchte, sind nur einige Erinnerungen, die in High sein oder „Lass mich die Nacht überleben“ einfließen.
„High sein“ ist eher das „Safer use“ Buch, womit Menschen möglichst nicht in eine Sucht rutschen sollen. „Lass mich die Nacht überleben“ ist hingegen seine Autobiografie. Der Titel geht auf eine Nacht zurück, die Jörg Böckem fast nicht überlebt hätte und von seiner Freundin wiederbelebt werden musste. Verzweifelt suchte er nach einer Vene, der Entzug kroch ihm als Schweiß aus jeder Pore, er war nicht mehr ganz bei sich. Seine Freundin spritzte ihm Kokain in die Halsvene, womit er nach hinten umkippte, seine Lippen blau anliefen und sie ihn wiederbeleben musste.
Als er zu sich kam, war er geistig noch abwesend, demolierte die Wohnung, griff sie an und bemerkte dann das Blaulicht auf der Straße. Sie hatte den Notarzt gerufen, die Wohnung war zerlegt, voll mit Drogen und die Polizei stand an der Tür. Wie er sie wieder loswurde, weiß Jörg nicht mehr. Er machte sich direkt mit Heroin, Alkohol und Valium breit, er hatte immerhin am nächsten Tag um 9 Uhr einen wichtigen Termin für seine Arbeit beim Spiegel.
Vom High sein zum „Lass mich die Nacht überleben“
Egal was seine Eltern, Freunde, Lehrer oder sonstigen Leute auch über Drogen und Drogensucht gesagt hätten, sie hätten den rebellierenden Jörg nicht mehr erreicht, sondern nur eine Abwehrhaltung erlebt. Er stammt aus der Generation, in der mit Bierglas in der Hand die totale Abstinenz gepredigt wurde. „Man wird nicht drogensüchtig, wenn man keine Drogen nimmt, fertig. Wird man doch süchtig, muss man halt aufhören, das muss man nur wollen, das kann jeder, prost.“
Nichts, was in der Öffentlichkeit über Drogen gesagt wurde, stimmte. Jörg musste es immerhin wissen, er probierte die einst verfügbaren legalen und vor allem illegalen Drogen aus. Er hat das sehr positiv empfunden und hätte nie geglaubt, dass das dann hinterher alles anders wird, da die Drogen einem nichts mehr geben, man sie jedoch nehmen muss, um sich nicht schlecht zu fühlen. Dann geht es eben nicht mehr um das High sein sondern darum, keine psychischen und physischen Schmerzen zu haben. Mehrfache Entzüge und Therapien bewiesen, dass es eben nicht so einfach ist mit „dann nimm halt keine Drogen, dann hast du auch kein Drogenproblem“.
So könnte man auch sagen, dann habe halt keinen Sex oder nur mit dir selber, dann kriegst du auch keine Krankheiten. Oder: Dann bleib halt den ganzen Tag daheim, dann hast du auch keinen Verkehrsunfall. Das ist vielleicht nicht ganz dasselbe aber irgendwo auch doch. Menschen nehmen nun mal Drogen oder machen Dinge, von denen eine Suchtgefahr ausgeht, sie wollen eben high sein. Ob das legal oder illegal ist, das ist den Menschen nun mal egal.
Frei sein vom High sein
Ohne mehrfache Drogentherapien, seiner Arbeit oder den Kontakten zu nicht Süchtigen hätte Jörg es nicht überlebt oder geschafft, so ist er zu verstehen, wenn er sein „High sein“ jetzt hinter sich hat oder zumindest keine Drogen mehr dafür nimmt. Welche Menschen kommen zu seiner Lesung? Es sind durchaus einige Besucher unter 30 oder sogar unter 25 Jahre jung. Doch der überwiegende Teil ist jenseits der 40. Davon hat der kleinere Teil vielleicht selber ein Suchtproblem zu bewältigen. Der Großteil scheint jedoch aus Personen zu bestehen, die in ihrem direkten Umfeld mit einem Drogensüchtigen zu tun haben. Es ist Mai, eine Mutter meldet sich zu Wort, ihr Sohn sei im März verstorben. Er habe den Entzug hinter sich, muss aber 6 Monate auf den Therapieplatz warten. Bei der Entlassung aus dem Entzug wurde ihm gesagt: „Du baust sowieso innerhalb von 14 Tagen einen Rückfall, du bist aber nicht mehr an das Zeug gewöhnt, nimm weniger davon.“
Warum hat die betreffende Person nicht weniger genommen? Wer diese Leute selber schon erlebt hat, der hat erst die Möglichkeit, es zu verstehen. Nachdem der Entzug bereits Monate hinter diesen Süchtigen liegt, sind diese im Kopf noch derart unruhig, getrieben und labil, dass selbst ohne einen schlechten Tag ein Rückfall der Normalfall ist. Wenn dann jedoch ein tragisches Ereignis daher kommt, ist der Rückfall extrem wahrscheinlich.
Ein Streit mit der Freundin, den Mitbewohnern, dem Sachbearbeiter, bei der Arbeit oder einfach nur, dass man mit der eigenen Zeit nichts anzufangen weiß und einem die Decke auf den Kopf fällt. Aber in den Momenten ist man so geistesabwesend, dass alles im Tunnelblick ganz automatisch passiert. Viele spritzen also die Menge, die sie vorher auch verwendeten und sterben. Eine ausreichende Substitution könnte das verhindern und ist bereits bei vielen, wie auch bei Jörg Böckem, der Zwischenschritt zum Leben ohne Drogen gewesen.
Die Sucht aussitzen
Jörg Böckem hat es vielleicht so direkt nicht gesagt, die Theorie liegt jedoch nahe, dass eine Sucht so ähnlich wie eine Grippe ist. Wer es aussitzt, hat es nach 14 Tagen hinter sich. Wer zum Arzt geht, schafft es in zwei Wochen. Man muss es halt aussitzen. Was kann man denn machen? Jörg Böckem hat eine Antwort: Harm Reduction. Die Gesellschaft soll die Junkies nicht mit dem Strafgesetz oder Stigma verfolgen, sondern ihr Leben so weit angenehmer und sicherer machen, dass sie so lange überleben. Denn wenn diese noch nicht wollen oder noch nicht können, dann muss eben abgewartet werden, so schlimm das über die Jahre auch ist, die es im Normalfall dauert.
Wenn Jörg erklärt, dass er drei Therapien brauchte, von der jede für ihn wertvoll war, so stellt sich die Frage, ob er nicht einfach diese Zeit auch deswegen überlebte und damit alles aussitzen konnte.