Ist das berauschende Kraut Medizin oder Sünde und wann die Sünde wert?
Immerhin darin sind sich die meisten Religionen und Konfessionen einig: Wenn die Anwendung der Pflanze dem Lindern von Schmerzen und einer besseren physischen und seelischen Gesundheit dient, ist sie zumindest geduldet, wenn ihr Konsum in erster Linie eine mehr oder weniger ziellose Berauschung beabsichtigt, ist Cannabis eine verbotene Frucht. In etwa so lassen sich die groben Linien der fünf großen Weltreligionen zusammenfassen. Aber Umfang und Intensität der Auseinandersetzung mit der Pflanze und ihrem Potenzial für Gesundheit von Körper und Geist sind über verschiedene Religionen und Konfessionen hinweg sehr unterschiedlich.
Lohnt sich der religionswissenschaftliche und damit vorwissenschaftliche Blick auf die jahrtausendealte Geschichte der Cannabispflanze überhaupt? Lassen sich aus dieser Perspektive vielleicht auch Erklärungsansätze für aktuelle internationale Entwicklungen rund um das Thema Cannabis in Medizin, Gesellschaft und Wirtschaft finden? Warum ist Israel seit den 1960er-Jahren Schrittmacher der Cannabisforschung, während vielerorts christliche Kirchen und Kirchengruppen jeden Vorstoß blockieren? Sind manche Cannabinoide heiliger als andere und wie verhält es sich generell mit dem medizinischen und spirituellen Wert des Rausches?
Ein Versuch der Annäherung an die Diskussion aus religiöser Perspektive kann keine Sünde sein, schließlich scheint auch heute in einem zunehmend evidenzbasierten Forschungsumfeld zumindest noch in Detailfragen Raum für vermeintlich unwissenschaftliche Annahmen zu bestehen.
What would Jesus do?
Die Hippie-kompatible Grundstimmung der Lehre Jesu mag darüber hinwegtäuschen, aber die Haltung christlicher Gemeinschaften zum Thema Cannabis ist mehr als uneinheitlich und tendenziell negativ. Recht schnell ist man bei der Einordnung der Pflanze beim absoluten Begriff „Sünde“, wobei das Christentum zugleich die einzige Religion ist, die Alkohol fest in seine Rituale integriert hat. Aus dieser Perspektive überrascht wenig, dass etwa der einseitig polarisierende und moralisierende US-Streifen „Reefer Madness“ (1936) von einer christlichen Gruppe finanziert wurde. Ein Muster, das sich seither in verschiedensten christlichen Gruppen und der Prohibitionsbewegung fortsetzt und eine ausgewogene Auseinandersetzung mit dem Thema Cannabis zu verhindern scheint.
Eine Ausnahme ist das katholische Polen, deren konservative Regierung 2018 vor dem Hintergrund des schweren Einzelschicksals eines prominenten Cannabispatienten den Zugang zu medizinischem Cannabis legalisierte. Zeitgleich trug die orthodoxe Staatskirche im postsowjetischen Musterstaat Georgien entscheidend dazu bei, dass jede Form der Liberalisierung beim Thema Cannabis bekämpft und weitreichende Reformen vorerst verhindert wurden. Im Christentum scheinen über Konfessionsgrenzen hinweg Berührungsängste mit der verteufelten Heilpflanze zu bestehen.
So hat sich etwa das Judentum über die Jahrhunderte viel differenzierter und intensiver mit dem Potenzial der Cannabispflanze beschäftigt und modernen Entwicklungen von Cannabis als Medizin den Weg geebnet. Es waren israelische Wissenschaftler um Prof. Raphael Mechoulam, die in den 1960er-Jahren die Cannabinoide CBD und THC erstmals isolieren konnten. Meilensteine in der Erforschung der polarisierenden Heilpflanze, während parallel die teilweise rassistische Cannabisprohibition in den USA ihren vorläufigen Höhepunkt erreichen sollte.
Auch im Islam ist die Haltung zu Cannabis nicht eindeutig. Es wird darüber gestritten, ob der Konsum als haram (verboten) oder halal (erlaubt) einzustufen ist. Ein Großteil der Gläubigen bezieht das Verbot aller Rauschmittel auch auf Cannabis, wobei dies auf nicht berauschende Verbindungen in der Cannabispflanze wie CBD nicht zutrifft. Vor diesem Hintergrund können Cannabisprodukte, die kein oder wenig THC enthalten, durchaus als halal angesehen werden. Im medizinischen Gebrauch gibt es dem Christentum ähnliche Auslegungsmechanismen, welche das generelle Verbot von Rauschmitteln im Krankheitsfall aufheben.
Im Vergleich zu den drei monotheistischen Weltreligionen sind Hinduismus und Buddhismus beim Thema Cannabis weniger streng und dogmatisch. Cannabis spielt etwa traditionell eine wichtige Rolle in hinduistischen Ritualen. Aufgrund dieser jahrhundertealten Tradition nehmen es indische Behörden auch heute bei der Durchsetzung des gesetzlichen Cannabisverbots nicht immer so genau.
Der Buddhismus hat mit den Fünf Silas einen Verhaltenskodex geschaffen, der unter anderem dazu auffordert, sich der Trunkenheit zu enthalten und die Tugenden der Achtsamkeit und der Verantwortung zu fördern. Auch aus dieser Perspektive wären THC-freie Cannabissorten uneingeschränkt zulässig und können sogar zu größerer Achtsamkeit verhelfen.
Zusammengefasst sind sich alle Religionen wohl einig, dass CBD als heiliges Cannabinoid bezeichnet werden kann. Das Wissen um dessen Existenz und Eigenschaften ist wiederum erst der modernen Wissenschaft zu verdanken und lässt die Pflanze nun auch aus religiöser Perspektive in neuem Licht erscheinen. Die ganze Pflanze?
Zwischen Wissenschaft und Glaubensfragen
Neue Fragen kommen auf, seit Cannabis nach über 5.000 Jahren seinen Weg in die evidenzbasierte Medizin gefunden hat. Ein uraltes Wissen der Menschheitsgeschichte ist nun in hochtechnologischem Gewand zurück auf der Bühne. Aber um die Cannabispflanze und ihre Produkte zum Wohle möglichst vieler Patienten einsetzen zu können, müssen sie dem bestehenden Gesundheitssystem angepasst werden. Der Integrationsprozess der alten Heilpflanze in die moderne Pharmaindustrie verläuft nicht immer reibungslos, dabei bleibt Raum für Glaubensfragen, die mehr auf Erfahrungswerten und Kasuistiken beruhen als auf den strengen Kriterien klinischer Forschung. Die Folge ist oft ein halbwissenschaftliches Minenfeld, das Platz für verschiedenste Glaubenssätze lässt.
Dies illustriert etwa die Diskussion über den Entourage-Effekt. Gemeint ist das Zusammenspiel des vollen Spektrums der Cannabispflanze, inklusive Terpene und sonstiger Pflanzenstoffe, dem in Teilen der Fachöffentlichkeit eine höhere biologische Aktivität beigemessen wird als synthetisch oder natürlich isolierten Monosubstanzen. Auch viele Patienten bevorzugen Vollspektrumprodukte, gerade weil sie diese als natürliche Alternative zu herkömmlichen chemischen Angeboten der pharmazeutischen Industrie wahrnehmen.
Isolate wie Dronabinol und CBD erfreuen sich demgegenüber in der medizinischen Fachwelt einer größeren Akzeptanz und haben den Weg der Cannabispflanze in die moderne Medizin überhaupt erst geebnet. Diese cannabinoidhaltigen Medikamente sind mit weniger systemischen Herausforderungen für den verschreibenden Arzt verbunden und ihnen haftet nicht pauschal das Label „Steinzeitmedizin“ an, wie es etwa bei Cannabisblüten noch in manchen medizinischen Fachkreisen der Fall ist. Sie scheinen als Naturmedizin-Light viel einfacher in das bestehende Gesundheitssystem integrierbar, als dies etwa bei den disruptiveren Cannabisblüten der Fall ist. Ein heiliges Cannabinoid – auch in der Wissenschaft.Geht es etwa bei dieser Glaubensfrage wirklich nur um den Entourage-Effekt oder steckt mehr dahinter? Bei dem stark emotionalisierenden und facettenreichen Thema Cannabis wird in jedem Fall auch in wissenschaftlichen Diskussionen immer genügend Platz für Glaubenssätze sein – und Glaube versetzt bekanntlich Berge.
Israel – kann Kiffen koscher sein?
Israel kann als Geburtsland einer systematischen Cannabisforschung bezeichnet werden. Die Cannabinoide CBD und THC wurden in den 1960er-Jahren in Jerusalem erstmals isoliert, wobei israelische Wissenschaftler bei der Entdeckung des körpereigenen Endocannabinoidsystems in den 1990er-Jahren eine gewichtige Rolle spielten. Cannabis wird im jüdischen Staat seit Jahrzehnten in der Medizin für verschiedene Indikationen eingesetzt, auch im Freizeitbereich ist der Cannabiskonsum überproportional verbreitet und an der Spitze der größten nationalen Cannabisunternehmen stehen mit einem ehemaligen Ministerpräsidenten und einem ehemaligen Geheimdienstchef politische Schwergewichte. Die Legalisierung des Freizeitkonsums scheint sehr nah.
Diese Entwicklung wäre ohne entsprechende Rahmenbedingungen so nicht denkbar. Das Judentum sowie verschiedene Gelehrtenmeinungen, die sowohl der liberalen, konservativen, aber auch orthodoxen Auslegung entspringen, haben über die Jahrhunderte wiederholt einen differenzierten Umgang mit Cannabis gefordert, seinen medizinischen Nutzen betont und zumindest die Auseinandersetzung mit dem vermeintlichen Teufelskraut nie vermieden oder gar verboten.
Im Einklang mit dieser Tradition ist heute der Staat Israel mit seiner aufstrebenden Cannabisindustrie das bestimmt positivste Beispiel für den Zusammenhang von Cannabis und Religion in der Moderne.
Georgien – die Orthodoxie als größter Hemmschuh?
Georgien ist das einzige Land der ehemaligen Sowjetunion, das bisher den Cannabiskonsum entkriminalisiert hat. Aufgrund eines Urteils des georgischen Verfassungsgerichts vom 30. Juli 2018 ist Cannabis in Georgien in Bezug auf seinen Besitz und Konsum legal. Anbau und Verkauf von Cannabis sind auch heute noch illegal.
Eine exportorientierte medizinische Cannabisindustrie konnte in dem sonnenreichen Land am Schwarzen Meer nicht entstehen, auch wenn entsprechende politische Prozesse vor wenigen Monaten noch in diese Richtung deuteten. Die liberale georgische Regierungspartei „Georgischer Traum“ erwog die Aufhebung der Beschränkungen für die Herstellung von Cannabis für pharmazeutische und kosmetische Zwecke sowie für den Export. Kurz nach der Entkriminalisierung kündigte die Regierung ihre Initiative an. Der Gesetzesentwurf wurde an das Parlament geschickt, aber aufgrund einer enormen Gegenreaktion seitens der Gesellschaft und der georgisch-orthodoxen Kirche vorerst zurückgezogen.
Die einflussreiche orthodoxe Kirche in Georgien reagierte auf die Lockerung der georgischen Cannabispolitik mit einer Demonstration einschließlich eines öffentlichen Anti-Legalisierungsgebets. Die Staatskirche, die vor allem seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion großen Teilen der Gesellschaft Orientierung bietet, sieht in Cannabis ein Teufelskraut, dessen medizinischer Nutzen negiert wird. Ein seltsames Konzept von Nächstenliebe, das etwa den volkswirtschaftlichen Nutzen für das nach wie vor arme Land ignoriert. Eigentlich bringt die georgische Wirtschaft ideale Bedingungen für das Entstehen einer medizinischen Cannabisindustrie mit, fehlt nur noch der Segen der orthodoxen Kirche.
Ausblick
Die Frohe Botschaft: Cannabis wird generell zunehmend offener diskutiert und das medizinische Potenzial findet mehr und mehr Anerkennung. Dies schlägt sich in der Gesetzgebung vieler Staaten nieder. Tempo und Intensität dieser verhältnismäßig neuen Offenheit sind auch heute nicht unabhängig von Traditionslinien, die sich in einigen Fällen sehr stark in der jeweiligen Staatsreligion, ihren Institutionen und/oder religiösen Gemeinschaften manifestieren.
Gerade diese Gruppen sind nicht selten mitverantwortlich, dass veraltete Stereotype und wissenschaftlich widerlegte Zerrbilder von Cannabis als gottloser Rauschdroge weitergetragen werden. Aber auch das Gegenteil kann der Fall sein. Die Dynamik der weltweiten Entwicklung gibt Anlass zu glauben, dass immer wieder neue Fragen aufkommen werden, die nicht immer ausschließlich mit den Instrumenten der Naturwissenschaft bearbeitet werden können. Es wird immer Raum für Glaubenssätze geben. Ein Versuch der Annäherung an die Diskussion aus religiöser Perspektive kann daher keine Sünde sein.
Der Autor: Peter Leis, PR-Manager, Frankfurt a. M.
Der Absolvent der politischen Wissenschaft, Psychologie und Rechtswissenschaften war bis Juni 2020 als PR-Manager in der Europazentrale der kanadischen Canopy Growth Corporation in Frankfurt a. M. tätig. In dieser Eigenschaft war Peter Leis für die Außendarstellung des börsennotierten Unternehmens verantwortlich, etwa im Rahmen der im Sommer 2019 erfolgten Übernahme der Cannabinoidsparte C3 des deutschen Phytopharmaherstellers Bionorica. Damit gehört der selbstständige PR-Berater zu den wenigen erfahrenen Experten der noch jungen Cannabisindustrie in Deutschland. Sein Erkenntnisinteresse beim Thema Cannabis liegt neben ökonomischen, natur- und sozialwissenschaftliche Fragestellungen auch in Bereichen wie Ethnologie und Religion.