Reden wir von Cannabis im Jahr 2022 dürfen so manche Gesellen ihre Uhren neu einstellen, denn wir schreiben eine neue Zeitrechnung. Während in Bayern zwar scheinbar noch beharrlich die Kuckucksuhren ihr immer gleiches Lied spielen und mancher Politiker, mit verstaubter Rhetorik versucht, sein politisches Profil zu schärfen, scheint der Rest der Welt vielerorts gedanklich bereits drei Schritte weiter zu sein. Thailand eröffnet Anbaumöglichkeiten, der US-Präsident Biden kündigt eine Begnadigung Inhaftierter für Cannabis-Delikte an und in Deutschland veröffentlichen Ministerien Eckpapierpunkte zu einer flächendeckenden Legalisierung von Cannabis für den Freizeitmarkt. Bei all der berechtigten Euphorie sollten wir uns aber immer erlauben, einen Blick zurückzuwerfen. Wirtschaftliche Interessen waren immer eng mit Cannabis verwoben, doch gab es Zeiten, in denen Cannabis noch nicht als interessantes Investitionsgut galt, sondern vor allem eins war – ein Kulturgut.
Wer die Geschichte von Cannabis in Deutschland verstehen möchte, der muss über den großen Teich und in die USA blicken. Obwohl Cannabis bereits lange in den Kulturen Vorder- und Zentralasiens bekannt und verbreitet war, ist es die US-amerikanische Geschichte, die unsere deutsche Cannabiskultur maßgeblich geprägt hat. Die Grundsteine dafür liegen lange vor der Westintegration der Adenauer-Jahre. In der noch jungen Bonner Republik stand die „deutsche Hecke“ nicht für das Gartenprojekt eines Homegrowers, sondern lediglich für den Traum des Eigenheims in einem aufstrebenden Land nach zwei Weltkriegen. Unsere Betrachtung muss in der Zeit kurz nach Al Capone und der Prohibition beginnen. Nach dem Ende der Prohibition von Alkohol um 1933 in den USA wurde Cannabis verboten. Damit hatten extra geschaffene Behörden und Kontrollorgane des amerikanischen Staates für Alkohol weiter eine Daseinsberechtigung, Arbeitsplätze konnten gesichert und mit der zunehmenden Stigmatisierung auch langfristige Jobs garantiert werden. Betroffen hat das Verbot vorwiegend nicht weiße Personen. Cannabis wurde in den USA schließlich lange allen voran in kleinen verrauchten Jazz-Clubs konsumiert und traf damit zunächst vornehmlich die Schwarze Community der USA und damit keine (entscheidende) Wählergruppe. Das Wahlrecht für die schwarze Bevölkerung der USA trat erst 1965 durch den Voting Rights Act in Kraft.
Cannabis mit seinen vielen positiven Charakteren wurde über die Zeit zum Ausdruck und Zeichen der US-amerikanischen Hippie-Bewegung der 1960er-Jahre, die sich für pazifistische und freiheitsliebende Leitmotive im allgemeinen Gesellschaftsverständnis einsetzte. Mit der Kritik an Konsum und Krieg und dem Wunsch nach Frieden und Freiheit kann die Bewegung, genau wie die an Fahrt gewinnende Bürgerrechtsbewegung der 1960er-Jahre, als Brandherd politischen Wandels gesehen werden. Sinnbildlich stand der Konsum von Cannabis plötzlich für die Antithese zum Ausrollen eines gesellschaftlich konservativen, neoliberal geprägten Gesellschaftsbildes. Wer jedoch denkt, dass Cannabis den Konservativen gänzlich egal war, der verhustet sich gewaltig, an diesem Joint der Wahrheit. Die wannabe Faschos in Designeranzügen erkannten das Potenzial von Cannabis weitaus mehr, als es auf den ersten Blick zu scheinen vermag. Der Konsum wurde moralisiert und mit einer Ablehnung von Staat und Gesetz gleichgesetzt. Wer Cannabis konsumiert, wurde als abhängig und abnormal geframed. Cannabis gewann so den Status als Pflanze des Anti-Establishments. Aus der Hippie-Bewegung entstanden später weitere Subkulturen, darunter die Punker-Szene und die Goa-Szene. Die Ideale der Bürgerrechtsbewegung mündeten besonderes in der Musik und wurden in lyrischen Raptexten verarbeitet und aufbereitet. Es gab eine juristische, aber keine gesellschaftliche Angleichung und die Sorge, die Hoffnung, die Wut und die Sehnsucht vieler betroffener Personen fand ihren Ausdruck Jahre später im Klang- und Sprachbild der Straße.
Marginalisierte Gruppen der nicht weißen Bevölkerungsschichten wurden trotz Gesetzesänderungen weiter gettoisiert und von vielen wirtschaftlichen Perspektiven ferngehalten. Das Ausbildungs- und Arbeitsangebot wurde nur unzureichend gesellschaftlich abgedeckt und neue Einnahmequellen mussten gewonnen werden. Der Siegeszug von Cannabis als gewinnbringendes Wirtschaftsgut organisierter Kriminalität lief auch deshalb so gut, weil der US-Staat es versäumte, die richtigen Weichen eines besteuerten und staatlich kontrollierten Verkaufs zu legen. Im Grunde handelte er genau gegenteilig und 1971 wurde der „War on Drugs“ ausgerufen, um der Stigmatisierung harmloser Freizeitkonsumenten noch einen martialischen Rahmen zu geben. Mit brachialer Gewalt wurde versucht, ein inländisches Feindbild zu zeichnen, dass die vorherrschende gesellschaftliche Ordnung vermeintlich ablehnt und der mit der vollen Härte staatlicher Ordnungsmacht begegnet werden muss. Dabei wurde Cannabis häufig in den Disco-Räumen von freien und friedliebenden Personen konsumiert. Wieder ein Space, der maßgeblich von nicht weißen Bevölkerungsschichten geprägt wurde. Auch ein Beweis dafür, dass die Geschichte des Cannabis auch immer eine Geschichte der Musik ist. Disco wurde Stück für Stück von den ersten bekannten Hip-Hop/Rap-Gruppierungen abgelöst. Die in den 80ern sehr bekannte „The Sugarhill Gang“ ist als ein berühmtes Beispiel zu nennen, die den Wandel von der Disco-Musik hin zu einer von Hip-Hop dominierten Musikkultur einleiteten. Noch fernab jedwedes Gangster-Images hatten sie Sprechgesang mit neuen Disco-ähnlichen Klängen kombiniert. Durch ihre sozial-kulturelle Prägung und ihrer musikalischen Lebenswelt war Cannabis ihnen eng vertraut. In dieser gesamten Zeit wurde Cannabis gesamtgesellschaftlich weiter symbolträchtig aufgeladen und immer mehr von den Kunstschaffenden der Straße in Texten behandelt. Die Ausgrenzung und Stigmatisierung nahmen mit politischem Willen weiter zu. Durch die anhaltende Gettoisierung konnten sich Gangs ausbreiten und Räume für sich beanspruchen. Eine neue Generation Kinder lernte Cannabis als Alltagsgut kennen. Leider jedoch kriminell aufgeladen und inmitten von Gewalt. Als gesichtswahrender Ausbruch aus dem Kreislauf an Kriminalität und Perspektivlosigkeit, indem Loyalität sowohl Lebensversicherung als auch Todesurteil bedeuten konnte, galt oft die Musik als Anker. Im Speziellen, die immer sozial kritischere Rapmusik.
Wichtige Protagonisten des Wechsels von Rap zu Gangster-Rap war die 1986 gegründete Gruppe N.W.A. Der Sound der Rapmusik war der Sound der Straße, in dem auch die Themen der Straßen verarbeitet worden sind. Die Sehnsüchte und Wünsche früher Kindheitstage wurden mal melodisch-lyrisch und mal auf die Fresse verarbeitet. Oft auch mit teils extremen Ausprägungen. Wenig verwunderlich gilt es doch zu bedenken, dass die meisten Lebensrealitäten von einer Abfolge immer neuer Extreme gekennzeichnet waren. Die Anfeindungen gegenüber dem ausführenden Organ der Exekutive fand ihr prominentes Beispiel im Song „Fuck tha Police“. N.W.A. schärften das Profil des Gangster-Rappers und ebneten trotz ihres Westcoast-Sounds den Weg für Rapper aus dem gesamten Land. Interner Streit und Auseinandersetzungen wurden oft so geführt, wie es die Personen aufgrund ihrer Herkunft kennengelernt hatten. Bedauernswerterweise ging dies nur zu oft mit Einschüchterung und Gewalt einher. Treuer Wegbegleiter in allen Studio-Sessions und im Tour-Bus war Cannabis. Nicht der Auslöser oder die Ursache für Probleme, aber immer verknüpft in einer problembehafteten Umwelt, konnte Cannabis das Image als Droge des Verbrechens so nicht ablegen. Wurzelten die gesellschaftlichen Probleme doch aufgrund fehlender politischer Weitsicht und ignoranter Polemik. Bereits damals ging es weiterhin darum, das eigene politische Profil zu schärfen und Feindbilder zu kreieren, um die eigene Anhängerschaft zu mobilisieren. Grüße an dieser Stelle gehen raus an Markus S. aus Bayern.
Der verkörperte Lebensstil der Gangster-Rapper war zwar bei genauerer Betrachtung nur eine krasse Zuspitzung von als gut geltender gesellschaftlicher Norm, ist die Kumulation von Reichtum und Anerkennung schließlich ein nicht von der Hand zu weisendes Kernideal des kapitalistischen Lebensentwurfs. Doch die Lebensrealität und Verhaltensweise der Gangster-Rapper war verzerrt genug, im direkten Vergleich zur Mehrheitsgesellschaft, dass es ein Einfaches war, die Gangster-Rapper medial für Schlagzeilen und Beiträge zu skandalisieren, um Auflage und Quote zu machen.
„Schaut her, da schlagen sie sich wieder die Köpfe ein für ein bisschen Kohle und das Image.“ Hielten bereits die frühen Gangster-Rapper der Gesellschaft wissentlich und unwissentlich nur den Spiegel vor die Nase. Die 90er waren stark geprägt vom Battle Westcoast gegen Eastcoast. Bist du Team Pac oder Team Biggi? Eine Frage, die in der Medienlandschaft gerne aufgegriffen und instrumentalisiert wurde und nur selten mit dem Verständnis porträtiert worden ist, dass es bei diesen Auseinandersetzungen immer auch um das Leben der Beteiligten geht. Betrachten wir Gangster-Rapper, können wir Privatperson und Gangster-Image unterscheiden. Mit dem Eintauchen in eine Rolle und dem Annehmen verschiedener Persönlichkeiten wird mittlerweile fast satirisch gespielt, doch ist dies das Produkt einer jahrelangen Entwicklung. Person auf der Bühne und Person im Privatleben waren damals noch nicht so einfach zu trennen, denn die Gangster-Rapper der ersten Stunde waren vorrangig rappende Gangster, ob nun privat oder in der Öffentlichkeit.
Warum aber die lange Ausführung ohne Anspruch an Vollständigkeit? Wo passt Deutschland in das Bild und was hat das alles mit Cannabis zu tun?
Mit der breiten medialen Berichtserstattung der US-amerikanischen Rap-Szene und der darin behandelten Themen wurde in Deutschland aufgegriffen und verarbeitet, was in den USA wie auch in Deutschland bei der nicht weißen Community gleich war. Die Themen einer zwei Klassengesellschaft, eines Struggels nach gesellschaftlicher Anerkennung und Gleichstellung und die Zuspitzung zu einer Antithese zur vorherrschenden gesellschaftlichen Norm. Getreu dem Motto: Ihr seht mich als Außenseiter und Störfaktor dieser Gesellschaft? Dann zeige ich euch ganz genau, wer hier Störfaktor und Außenseiter ist. Gangster-Rapper in Deutschland schickten sich an, den großen Vorbildern nachzueifern. Ermöglicht wurde dies, da die Themen im Kern die gleichen waren, wie in den USA. Auch hier gab es Gettoisierung der sog. Gastarbeiter und es wurden Personen aufgrund ihrer Herkunft ausgegrenzt und der Zugang zu Ausbildung und Arbeit wurde ihnen teilweise verwehrt. The Struggle is real. Ob nun in Compton oder Offenbach, ist dabei zweitrangig. Auch hier machte Rap eine Entwicklung durch, da es nicht der gleiche Gangster-Rap war, der die Rap-Szene dominierte. Samy Deluxe und Afrob waren untrennbar mit Cannabis verbunden, da die Vorbilder des Rap aus den USA mit Cannabis verbunden waren und die sozialkritischen Themen und Elemente übertrugen, bevor ab circa 2004 der Gangster-Rap in Deutschland einen fast beispiellosen Erfolg feierte. Da Cannabis maßgeblich identitätsstiftend und zu einem natürlichen Selbstverständnis der Szene gehört, könnte schnell angenommen werden, dass der Legalisierung auf der Straße eher kritisch begegnet wird. Dem ist jedoch nicht so.
Doch ihr müsst nicht mir allein Glauben schenken, treue Leserschaft. An meiner Seite habe ich die deutsche Straße in Persona. Ein Hustler der alten Schule mit immer neuen Ambitionen. Der Mann, auf dem der jetzt erscheinende Kinofilm Rheingold basiert. Ein Künstler mit vielen Namen und Titeln. Den liebevoll wie ehrfürchtig betitelten Baba aller Babas. Mein Freund und technisch gesehen auch mein derzeitiger Arbeitskollege Herrn Giwar Hajabi besser bekannt als – Xatar.
Als ich mit Xatar in meiner ersten Folge des Podcast „Schwarz auf Weiß“ über seine Sichtweise in Bezug auf Cannabis und Straße gesprochen hatte, nahm ich im Vorfeld an, dass eine Legalisierung auf große Ablehnung in der Community stößt. Waren es doch jahrelang die Dealer, die unter anderem Krebspatienten illegal Cannabis verschafft hatten, um Schmerzen oder Beschwerden zu lindern und das Leben wieder lebenswerter zu gestalten. Giwar hatte mir aus seiner eigenen zwar lange zurückliegenden, aber dennoch realen Vergangenheit berichtet, dass die besten Kunden oftmals die waren, die einen medizinischen Grund hatten, Cannabis zu konsumieren. Außerdem berichtete er davon, dass viele Personen aus dem Umfeld Straße bereits an einer guten Positionierung im legalen Freizeitmarkt interessiert waren. Merke, keine noch so agile Organisationsstruktur ist agiler als die Straße. Beim Gedanken an Legalisierung wird nicht vorwurfsvoll daran erinnert, dass es die Dealer und sog. Kleinkriminellen waren, die immer noch durch ihre Verbindung mit Cannabis stigmatisiert werden. Es wird daran gedacht, mit dem vorhanden Skillset vom Akteur auf dem Schwarzmarkt in den legalen Markt einzutreten, um versteuert und gesetzeskonform Geld zu machen. Xatars Wahrnehmung deckt sich mit der Vermutung, dass Cannabis allein durch politisches Kalkül eine jahrelang verpasste Chance für die gesamte Gesellschaft darstellt. Personen auf dem illegalen Schwarzmarkt handeln nicht der Illegalität wegen auf dem Schwarzmarkt, sondern weil es an politischem Willen gefehlt hat, diesen Steuer trächtigen Wirtschaftszweig in den regulierten Markt zu überführen. Gangster sein ist nicht mehr das Maß aller Dinge, weder als Musiker noch als Vorbild für den eigenen Lebensentwurf, denn das Image des klassischen Gangster-Rappers ist aus der Mode gekommen.
Zu groß ist der Wunsch nach Authentizität oder simpler Unterhaltung und zu ausgelutscht ist die Darstellung eines großspurigen Aufreißers mit viel Geld und Fame. Die Texte vieler neuer Rapper haben noch immer Cannabis als Thema oder Motiv. Songs von BHZ oder Pashanim haben weniger Sozialkritik als Alltagsprobleme inne. Keine Entwicklung, die es grundsätzlich zu bedauern gilt, bedeutet dies doch vielleicht, dass sich die neue Generation an Kunst schaffenden Rappern und mittlerweile Rapperinnen in der Gesellschaft angekommen fühlt. Was neben Beats und Technik auch Legitimität beim Publikum schafft, ist Cannabis, denn dieses Element wird durch die Zeit getragen. Vielleicht schaffen es manche Personen aus der Politik dann doch, die Zeiger ihrer Uhren neu zu kalibrieren, denn Cannabis muss neu gesehen werden, aber womöglich liegt es nicht mal an den Uhren. Zeit ist bekanntlich relativ.